Literarischer Mai

Menschen am Rande werden in den Mittelpunkt gerückt

Die Literaturreihe lädt zu Veranstaltungen unter dem Motto "Mittendrin?!" ein.
Die VHS-Leiterin Alexandra Schuhmeier, die Schriftstellerin Tina Stroheker und die Büchereileiterin Stefanie Kuballa (v.l.)
Die VHS-Leiterin Alexandra Schuhmeier, die Schriftstellerin Tina Stroheker und die Büchereileiterin Stefanie Kuballa (v.l.)Foto: bra

Vier Lesungen, eine barrierefreie Führung über den Poetenweg und eine Fotoausstellung - der Mai steht in Eislingen in diesem Jahr im Zeichen der Literatur. Für den fünften Literarischen Mai haben die Organisatoren - die Volkshochschule, die Stadtbücherei und die Lyrikerin Tina Stroheker - das Motto „Mittendrin?! Wie wir miteinander leben“ gewählt. Es geht um Menschen, die in der breiten Öffentlichkeit leicht übersehen werden.
„Die Thematik ist nicht leicht“, weiß die Büchereileiterin Stefanie Kuballa. Zum Auftakt des Literarischen Mais liest Dagmar Petrick aus „Martha, Helen und der Weg aus der Dunkelheit“. Das Buch und die Lesung richten sich ausdrücklich auch an jüngere Besucher ab zwölf Jahren.
Die Autorin beschreibt das außergewöhnliche Leben der Autorin und Menschenrechtlerin Helen Keller und ihrer Freundin Martha Washington. Im US-Bundesstaat Alabama treffen die beiden 1887 aufeinander. Helen ist weiß und reich - aber sie kann nicht sehen und nicht hören. Martha ist die Tochter der Köchin des Hauses und schwarz. Beide könnten kaum unterschiedlicher sein und doch haben sie eines gemeinsam. Sie finden beide wenig Beachtung. Das Schicksal verbindet beide Mädchen auf ungewöhnliche Weise. „Zwei Randfiguren werden in die Mitte der Geschichte gerückt“, fasst es die Büchereileiterin Kuballa zusammen.
„Jeder Krüppel ein Superheld“
Weiter geht es mit einer Lesung des Autors Christoph Keller. In „Jeder Krüppel ein Superheld - Splitter aus dem Leben in der Exklusion“ beschreibt er Szenen aus seinem Leben im Rollstuhl. Er spricht über Superhelden, radikale Normalisierung und Utopien. Es sind komische Geschichten, bei denen den Zuhörern jedoch immer wieder das Lachen im Halse stecken bleiben wird. „Er hat Sinn für Makaberes“, sagt die VHS-Leiterin Alexandra Schuhmeier.
Dürfen Menschen ohne Behinderung schmunzeln, wenn der Autor mit Spinaler Muskelatrophie launig über Missgeschicke oder ungewöhnliche Situationen schreibt? Ein Beispiel: Beim Zoobesuch muss der Autor ein Rollstuhlschild am Rollstuhl tragen - damit klar ist, dass man in einem Rollstuhl unterwegs ist. Wäre der Autor ohne die Krankheit, dürfte wohl herzlich gelacht werden. Ob eine „radikale Normalisierung“ dies nun auch erlaubt, muss wohl von den Betroffenen selbst beantwortet werden. Der Autor nimmt per Live-Stream an der Lesung teil.
Fester Bestandteil des Literarischen Mais ist die Führung über den Eislingen Poetenweg, den die Autorin Tina Stroheker anbietet. Dieses Mal wird die Führung mit dem Titel „Meine blaue Teekanne bleibt mir treu“ allerdings barrierefrei angeboten. „Wir sind oft Treppen gelaufen“, erinnert sich Stroheker an die früheren Führungen.
Generell wollen die Organisatoren bei den Veranstaltungen des Literarischen Mais für mehr Barrierefreiheit sorgen. Dass es dabei nicht ausschließlich um Rollstuhlfahrer geht, betonte die VHS-Leiterin Schuhmeier. Schwerhörige sollen beispielsweise mit speziellen Zusatzgeräten an den Lesungen teilnehmen können. Es gibt noch einige Fragen zu klären, wie eine größtmögliche Barrierefreiheit erreicht werden kann. Als Kooperationspartner sind die Kreisbehindertenbeauftragte des Landkreises und die Lebenshilfe bei diesem Literarischen Mai mit im Boot.
Es geht aber nicht allein um das Thema Behinderung, sondern auch um den Verlust der Heimat aus ganz unterschiedlichen Gründen. Davon erzählt Philipp Brotz in seinem Buch „Die Ungleichzeitigen“. Auf der einen Seite kehrt der Protagonist Hagen nach vielen Jahren in sein Heimatdorf zurück. Dort findet er vieles verändert vor, sodass er sich fragt, ob das Dorf der Kindheit überhaupt noch seine Heimat ist. Er trifft auf die Jesidin Adana, die ebenfalls, aber aus ganz anderen Gründen entwurzelt in dem Dorf gelandet ist. Der Entwicklungsroman erzählt von Heimatverlust, Selbstfindung und Toleranz.
Zum Ende eine Ausstellungseröffnung
Den Abschluss des Literarischen Mais bildet eine Ausstellungseröffnung mit Florian Jaenicke am 6. Juni. Das Buch „Wer bist du?“ ist eine Zusammenfassung einer Kolumne des ZEITmagazins, in welcher der Fotograf Jaenicke beschreibt, wie sich das Leben mit einem von Geburt an mehrfach schwerstbehinderten Kind anfühlt, das weder sprechen noch Augenkontakt halten kann. Nach der Vernissage mit Lesung am 6. Juni werden Fotos aus dem Buch im Rathaus zu sehen sein. „Es sind auch aufwühlende Bilder“, sagt die VHS-Leiterin Schuhmeier.
Ganz ohne Risiko ist die Planung nicht. Dass viele Menschen die Auseinandersetzung mit den beschriebenen Themen im Alltag meiden, ist den Organisatoren bewusst. Ob die Veranstaltungen viele Besucher locken, muss daher abgewartet werden.

Der Besuch der Veranstaltungen des Literarischen Mais sei aber eine Chance auf mehr Verständnis und Offenheit. Vielleicht könnten so Berührungsängste abgebaut werden, hofft Büchereileiterin Kuballa. Die Stadt habe mit dem Muliton-Festival bereits Erfahrungen gesammelt, ergänzt die VHS-Leiterin Schuhmeier. „Das ist ein gelebtes Mittendrin“, sagt sie.
Erinnerungen an 1933
Der Literarische Mai findet regelmäßig statt, um an die Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten zu erinnern. Am 10. Mai 1933 begannen die Nazis die Kampagne „Wider den undeutschen Geist“. Tausende Bücher vor allem jüdischer Autoren, aber auch anderer politisch unliebsamer Schriftsteller, werden verboten und öffentlich verbrannt. Doch bringt es überhaupt etwas, wenn sich Autoren engagierten? Das fragt die Initiatorin der Literaturveranstaltung Tina Stroheker. Sie findet schon. Wie wäre es anders zu erklären, dass sich Diktaturen bis heute so sehr vor Schriftstellern fürchteten, wenn die Schreibenden doch keinen Einfluss hätten. „Beim Nachdenken verändert sich etwas“, ist sich Stroheker sicher. Gleiches gilt auch bei den Beiträgen zum diesjährigen Literarischen Mai in Eislingen.bra

TERMINE

Donnerstag, 2. Mai: „Martha, Helen und der Weg aus der Dunkelheit“, Lesung mit Dagmar Petrick, 18 Uhr, Stadthalle Eislingen

Montag, 6. Mai: „Jeder Krüppel ein Superheld“, Lesung mit Christoph Keller, 19.30 Uhr, Stadthalle Eislingen

Samstag, 11. Mai: „Meine blaue Teekanne bleibt mir treu“ - Führung auf dem Eislinger Poetenweg mit Tina Stroheker, 15 Uhr, Treffpunkt Schlossplatz vor dem Rathaus, Eintritt frei

Donnerstag, 16. Mai: „Die Ungleichzeitigen“, Lesung mit Philipp Brotz, 19.30 Uhr, Stadthalle Eislingen

Donnerstag, 6. Juni: „Wer bist du?“, Lesung und Ausstellungseröffnung mit Florian Jaenicke, 19.30 Uhr, Rathaus Eislingen

Der Eintritt kostet bei allen Lesungen 10 Euro, ermäßigt 6 Euro.

Erscheinung
exklusiv online

Orte

Eislingen/Fils

Kategorien

Kultur
Lesungen
Literatur
von Redaktion NUSSBAUM, Eislinger Zeitung
24.04.2024
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