David Woodman, aus den „ersten Kreisen“ Englands, wie er es ausdrückt, will heiraten. Seine Braut Leonie hat ihm etwas voraus: Sie kann ihre Familie bis auf William, den Eroberer, zurückführen. Wie schön also würde es sein, so denkt David, Leonie zur Hochzeit eine Dokumentation über seine Vorfahren zu schenken.
Das ist die Geschichte, in die uns die Karlsruher Autorin Eva Klingler in ihrem neuen Roman „Letzter Schachzug“ führt. Denn David Woodman erteilt der Karlsruher Genealogin, Ahnenforscherin, Maren Meinhardt den Auftrag, seine Familiengeschichte zu recherchieren.
Sie soll lobende Unterlagen über seine Herkunft und eine Art Stammbaum zusammenzustellen. Was er weiß, ist, dass sein Großvater William Woodman, damals noch mit seinem deutschen Namen Wilhelm Holzmann, 1933 aus Karlsruhe vor den Nazis geflohen ist.
Gelebt hat Wilhelm Holzmann in der Leopoldstraße 7b. Das steht in dem Parteibuch, das ihn als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei ausweist. Die Eltern hätten, das weiß David Woodman noch, aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald gestammt. Ach ja, und übrigens würde sein zukünftiger Schwiegervater, der mit dem Stammbaum bis zu William dem Eroberer, in den nächsten Tagen nach Karlsruhe kommen.
So begegnet Maren bald dem attraktiven, wohlhabenden englischen, verwitweten Geschichtsprofessor Jonathan, mit dem sie viel Zeit verbringt ... Bei ihrer Forschungsarbeit unterstützen sie ihre Nachbarinnen, die wiederum Kontakte zu Menschen haben, die sich in ihrer Freizeit mit der Karlsruher Geschichte beschäftigen.
Eva Klingler nimmt uns mit in die Vergangenheit und in die Gegenwart. Wir haben teil an der Entwicklung von Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1929, bis 1933, als binnen Monaten die Nazis alles, was nicht nationalsozialistisch war, vernichtet haben. „Recht und Gesetz waren außer Kraft gesetzt und die Gewalt hatte freie Bahn“, schreibt Eva Klingler. Menschen, auch Wilhelm Holzmann, werden zusammengeschlagen, verhaftet, verschwinden, und im besten Fall ist ihnen dabei die Flucht gelungen. Wir erfahren vom Los der „Besatzungskinder“, meist gezeugt mit US-amerikanischen Soldaten und konfrontiert mit Diskriminierung, besonders, wenn sie sogenannte „brown babys“, waren.
In der Gegenwart begegnen wir Frauen im Rentenalter. Das Radfahren fällt Maren schwer, sie hat zwei Katzen und einen Hund, liegt gerne schon um 22 Uhr im Bett, fröstelt bei dem Gedanken, dass der Tod, so drückt es Jonathan aus, ein ständiger Begleiter sei.
Marens Erkenntnisse und die Fragen dazu sind ernüchternd. Wieso hat Wilhelm Holzmann seine schwangere Verlobte zurückgelassen und sich nie gemeldet? Was ist mit der jungen Frau, die im Stadtarchiv fanatisch nach ihrem Vater sucht? Welche Rolle spielt der Mord, der 1970 bei der Leopoldschule begangen wurde? Wie konnte Wilhelm Holzmann ohne Englischkenntnisse und ohne besondere Bildung es in die „ersten Kreise“ Englands schaffen? Wer ist der anonyme Anrufer, der Maren belästigt? Was ist in den Kisten in einem Keller? Und nicht zuletzt: Welche Rolle spielt Schach?
Alles in allem ist „Letzter Schachzug“ eine spannende, gut geschriebene Mischung aus Kriminalroman und zeitgeschichtlichem Dokument. Wir erkennen Parallelen zur Gegenwart und sind schließlich von Marens Bericht überrascht. Illustriert hat das Buch der Durlacher Fotograf Klaus Eppele, ergänzend dazu gibt es Fotos aus Archiven.
Info
Eva Klingler: Letzter Schachzug. verlag regionalkultur, 2024, 200 Seiten, 20.5 x 12.5 x 2 cm. Mit Fotografien von Klaus Eppele. ISBN-10: 3955055051, ISBN-13: 978-3955055059, 13,90 Euro