Der Schwetzinger Inklusionsbeirat möchte den Bürgern das Thema „Inklusion“ so nah wie möglich bringen. „Anfangen wollen wir bei den Kindern, denn sie haben meistens keinerlei Berührungsängste“, weiß Vorsitzender Gerhard Rummel, ehemaliger Lehrer an der Carl-Theodor-Schule.
Das Schulprojekt unter der Federführung von Beiratsmitglied Kürsat Özdemir, startete am Freitag in der Grundschule im Stadtteil Hirschacker. Der 29-jährige Physiotherapeut, der zurzeit seinen Bachelor of Science absolviert, hatte bis zur zweiten Klasse keine Probleme mit dem Sehen. Dann verschlechterte sich seine Sehkraft aufgrund einer angeborenen Augenerkrankung derart rapide, dass er die Regelschule verlassen und auf eine Blindenschule gehen musste.
„Ein Blinder ist nicht blind. Er sieht nur anders. Dieses Zitat der Schriftstellerin Marion Gitzel gefällt mir persönlich sehr gut. Denn genau so ist es“, sagt der sympathische und sportlich sehr aktive junge Mann. „Wir 'sehen' mit den Händen, mit den Ohren, mit der Nase und mit all unseren Empfindungen.“ Mit dabei hatte er seine 23-jährige Goalball-Mannschaftskollegin und Nationalspielerin Rauan Mardnli, die Wirtschaftswissenschaften studiert und wie er selbst seit ihrer Kindheit aufgrund einer Augenerkrankung blind ist.
In Vertretung der Schulleiterin begrüßte Daniela Nötting die beiden Referenten und übergab an Raquel Rempp, die als Beiratsmitglied das Projekt begleitet. Sie motivierte die Kinder, gut zuzuhören und viele Fragen zu stellen. Özdemir und Mardnli erklärten den Kindern, dass Blinde ein fast ganz normales Leben führen können, weil sie ja viele Dinge schon seit ihrer Kindheit lernten.
„Im Zeitalter der Digitalisierung haben wir Blinde es tatsächlich viel einfacher als Blinde in früheren Zeiten“, erklärt Özdemir. „Ohne Blindenstock und Handy gehen wir nicht aus dem Haus“, erklärte auch Mardnli den Kindern.
Auf die Frage „Wer von euch hat alles schon ein Handy?“, gingen fast alle Hände hoch. „Unser Sprachassistent im iPhone und iPad liest uns die Texte und Nachrichten, die wir erhalten vor und das in einer eingestellten Geschwindigkeit, bei der kein sehender Mensch mehr etwas verstehen würde“, führten sie den staunenden Kindern einen vom Handyassistent gesprochenen Text vor.
„Wir verstehen gar nichts“, riefen die Kinder. „Boah, ist das schnell!“ Die Kinder stellten neugierig viele Fragen: „Wie könnt ihr schreiben? Wie laufen Blinde auf der Straße? Wie putzt ihr euch die Zähne? Könnt ihr euch eine Pizza im Ofen warm machen? Wie wisst ihr die Temperatur? Wie macht ihr das mit dem Duschen? Wie bindet ihr euch die Schuhe? Wie geht ihr shoppen und einkaufen? Wie erkennt ihr das Geld? Könnt ihr Auto fahren?“, sie berichteten aber auch von eigenen Erfahrungen mit Eltern und Großeltern, die vielleicht nicht mehr ganz so gut sehen oder schon an den Augen operiert wurden.
Özdemir und Mardnli beantworteten alle Fragen in kindgerechten Worten und mit viel Humor: „Ich selbst steige immer wieder mal in den falschen Bus oder in die falsche Bahn ein.“, gab Özdemir zu. „Aber Schuhe binden kann ich wie ihr auch. Und stellt euch vor: Wir waren sogar schon mal Gokart fahren in Frankfurt.“ Raquel Rempp ließ ein Buch mit nur weißen Seiten und kleinen Punkten herumreichen.
Die Kinder fuhren sehr vorsichtig mit ihren Fingern über die Seiten, um die Punkte zu ertasten. „Wir sehen aber nichts.“ „Ja, das ist unsere Blindenschrift – nach dem Erfinder Louis Braille, auch Brailleschrift genannt“, erklärte Rauan Mardnli und las einige Zeilen, die sie mit ihren Zeigefingern ertastete, vor.
Nach den vielen spannenden Informationen ging es auch zur Praxis über. Die Kinder durften sich Schlafbrillen und Augenmasken aufziehen, um dem Gefühl des „Nichts sehen“ näher zu kommen. „Wir sehbehinderten oder blinden Menschen müssen uns viel mehr auf unser Gehör verlassen, wir hören in der Regel auch wesentlich besser als sehende Menschen“, erklärte Özdemir den Kindern, wie ein sehender Mensch einen blinden Menschen leiten sollte.
„Der blinde Mensch muss absolutes Vertrauen in den sehenden Menschen haben, dieser muss viel reden und dem Blinden auf alle möglichen Hindernisse hinweisen. Auf Stufen, auf Dinge, die auf den Wegen herumliegen, auf sonstige Gefahren.“
Mardnli erklärte den Kindern, dass es sehr wichtig sei, den auf die jeweilige Körpergröße angepassten Blindenstock bei sich zu führen. „Als Blinder hat man ja nicht immer jemanden dabei, der einen führen kann“. Glücklicherweise gebe es immer mehr Blindenleitstreifen und auch wenn diese oft mit sehenden Menschen überfüllt seien, würden diese für die Blinden meistens doch Platz machen. „Aber es gibt immer noch viele Menschen, die nicht wissen, für was und für wen diese Streifen eigentlich da sind.“ Weiter ging es mit verschiedenen Ballspielen.
Die Bälle waren mit Glöckchen ausgestattet, die Kinder mussten die Augen schließen und den Namen des Partners rufen, der den Ball fangen sollte. Einige Kinder sagten, dass sie sich mit geschlossenen oder verdeckten Augen unsicherer fühlten, andere aber empfanden das Spiel mit geschlossenen Augen doch spannender, es gefiel ihnen sogar besser. „Ein toller und cooler Vormittag!“, waren sich alle Beteiligten einig. „Wir sind jetzt schon auf den anstehenden Besuch in der Zeyherschule gespannt, um auch dort den Kindern zu demonstrieren und zu erklären, wie sich das Leben als Blinder so anfühlt“, freuen sich Özdemir und Mardnli.