Woher der Vorschlag kam, weiß August auch nicht mehr. „Als ich 10 war, wollte ich wieder lange Haare haben, so wie schon einmal als Kind. Also habe ich sie mir wachsen lassen“, erzählt der Neckargemünder. Vor ein paar Monaten reifte die Idee, die Haare zu spenden. „Da fehlten aber noch ein paar Zentimeter“, so Mutter Eva.
Also hielt August noch ein bisschen durch. Gegen manche Hänseleien von Schulkameraden und die ständigen Verwechslungen. „Ich werde oft für ein Mädchen gehalten“, sagt August. Mittlerweile habe er sich damit abgefunden. Doch seine Mutter sagt: „Das hat ihn schon geärgert. Wenn die Bedienung im Restaurant die Fanta bringt und sagt: ‚Für die junge Dame‘, kommt das nicht gut an.“
Quint ist stolz auf seinen kleinen Bruder: „Ich habe Respekt davor, wie er das durchgezogen hat, obwohl er geärgert wurde. Das finde ich sehr besonders an ihm.“ Selbst Augusts 18-jährige Zwillingsschwestern haben nicht seine Haarstruktur geerbt. „Er ist der einzige in der Familie, der diese schönen, dicken Haare hat“, erzählt Mutter Eva. Doch nun, vor dem Ski-Urlaub in den Faschingsferien, sollte die Matte runter, damit sie unter dem Helm nicht so kratzt.
Haare sind ein wichtiges Identifikationsmerkmal und besitzen neben einem ideellen auch einen finanziellen Wert. Nicht umsonst werden Perücken aus Echthaar zum Beispiel für Krebspatienten hergestellt. Der Bundesverband der Zweithaar-Spezialisten ruft jedes Jahr zur Haarspende auf; die Aktion trägt den passenden Namen „Rapunzel“. Die gesammelten Haare, die die notwendigen Voraussetzungen zur Weiterverarbeitung und Herstellung von Perücken und Haarteilen erfüllen, werden versteigert. Mit dem Erlös wird eine gemeinnützige Organisation unterstützt. 2024 ging das Geld an die Deutsche Kinderkrebshilfe.
Die Haare müssen gewisse Voraussetzungen erfüllen: Chemisch unbehandelt, zu Zöpfen gebunden und mindestens 30 cm lang können sie eingeschickt werden. Damit sich während des Transports durch Feuchtigkeit kein Schimmel bildet, sollten die Haare vor dem Frisörbesuch nicht frisch gewaschen werden. Und dann: Ran an die Schere.
Helena Pellert, seit 2019 Inhaberin eines Friseursalons in Dilsberg, wird diese Ehre zuteil. Augusts Haare wurden von seiner Mutter zu neun Zöpfen geflochten, die nun möglichst nah am Haaransatz abgeschnitten werden. In weniger als einer Minute sind 30 Monate Haarwachszeit abgeschnitten. „Morgen bringe ich die Haare zur Post, das ist schon komisch“, so Eva.
August fühlt sich befreit – von aufwendiger Haarpflege, Vorurteilen und Gewicht auf der Kopfhaut – und befürchtet, dass es sich nun draußen deutlich kühler anfühlt. „Es wird auf jeden Fall eine Umstellung“. Pellert nimmt noch die Maschine zur Hand, danach streicht sich August über den Kopf. „Fühlt sich gut an“, resümiert er. So kurz sollte es sein, wachsen schließlich wieder.
Wie viel die Haare bei der Versteigerung einbringen, wird die Familie nicht erfahren. Der Erlös hängt mit Haarqualität und -dicke zusammen, zudem werden für die Herstellung einer Perücke meist drei bis vier Haarspenden benötigt. Und wer weiß, vielleicht lässt sich August eines Tages wieder lange Haare wachsen.