Bruno, zweites Kind der Familie Händel, wuchs mit seinen vier Schwestern, Elisabeth (1935), Elfriede (1938), Franziska (1940) und später Maria (1949), im Elternhaus in Weiher, Hauptstraße 124, auf. Der Vater Pius (1908 – 1994), von Beruf Schreiner, wurde bereits 1941 zur Wehrmacht eingezogen und kam erst 1947 aus der russischen Gefangenschaft zurück.
Mit der Nebenerwerbslandwirtschaft, in der während der Kriegsjahre die Mutter (Maria, geb. Herzog 1910 – 1996), der Großvater und soweit möglich die Kinder mitarbeiteten, konnte sich die Familie gut ernähren. Familie Händel zog alles selbst, was zum täglichen Verzehr bestimmt war, wie Gemüse, Getreide und Viehfutter. Während des Krieges hatte die Familie drei Kühe und zwei selbst aufgezogene Schweine. Hühner lieferten die begehrten Eier, und während des Krieges waren auch Gänse im Stall der Händels. Ein „Landjahrmädchen“ unterstützte die Familie mit den vier kleinen Kindern zusätzlich. Zur Zeit der Weimarer Republik und anschließend in der Zeit des Nationalsozialismus gab es unter der Bezeichnung „Landhilfe“ ein arbeitsmarktpolitisches Angebot für Jugendliche, die nach dem achten Schuljahr ihre Vollzeitschulpflicht abgeschlossen hatten und die Schule verließen.
Weitere Unterstützung erhielt die Familie durch französische Kriegsgefangene. Bald nach dem Frankreichfeldzug 1940 kamen, wie in anderen Orten auch, französische Kriegsgefangene nach Weiher. Unter bestimmten Voraussetzungen konnten sie bäuerlichen Betrieben auf Antrag der Bauersfamilie zugeteilt werden. Wenn, wie dies bei der Familie Händel der Fall war, keine männlichen Arbeitskräfte zur Verfügung standen, weil der Vater oder die Söhne eingezogen waren, konnte man diese Hilfe bei der Gemeinde beantragen. Die Franzosen mussten tagsüber in der Landwirtschaft helfen und erhielten in der Familie ein ordentliches Essen. Nachts mussten sich die Gefangenen in ihrem Schlafraum im Rathaus einfinden. Anfangs wurden sie durch einen Wachsoldaten der Wehrmacht beaufsichtigt. Nach einiger Zeit übertrug man diese Arbeit dem „Ortsbüttel“. Dieser prüfte abends, ob alle französischen Kriegsgefangenen anwesend waren, und schloss den Raum ab.
So kam zunächst der Franzose Camille zur Familie Händel, der für den Buben obendrein Betreuer und Kindermädchen war. Ihm durfte der vierjährige Bruno die familieneigenen Felder zeigen. Selbstverständlich half Camille bei allen Arbeiten auf dem Hof tatkräftig mit und man hatte ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis. Später kam noch ein weiterer italienischer Kriegsgefangener dazu, Peter, auch er wurde gleich als weiteres Familienmitglied aufgenommen.
Als der betagte Großvater 1945 einen Schlaganfall erlitt, war die Hilfe noch notwendiger. Diese kam Ende 1945, also bereits nach Kriegsende, durch russische Kollaborateure. Viele russische Soldaten suchten nach den verheerenden Schlachten mit inkompetenten Heerführern vollkommen frustriert eine neue Heimat. Die Jahre der Sowjetdiktatur unter Stalin hatte viele desillusioniert und veranlasst, zum Feind überzulaufen. Viele mussten miterleben, wie unzählige Menschen einfach verschwanden, arretiert und zum Tode verurteilt wurden. Keine Familie war von Stalins Terror verschont geblieben. So erzählte einer von zwei der russischen Soldaten, die in Weiher Zuflucht suchten und eine neue Heimat fanden, dass seine Eltern, weil sie gläubige Christen waren und den Gottesdienst besuchten, von den Schergen Stalins verhaftet und zum Tode verurteilt worden waren.
Die beiden in Weiher gestrandeten Russen wurden noch eine ganze Zeit durch die amerikanische Besatzung gesucht, da es mit der Sowjetunion ein Auslieferungsabkommen gab.
Bruno kann sich noch an die Schrecken des Fliegeralarms erinnern. Die Familie floh in den stabilen Gewölbekeller des Nachbars Wendelin Herzog. Nur mit dem Schlafanzug bekleidet stieg man in den Keller, jeder hatte seine Kleider mitgenommen und man zog sich im Keller an. Zusammen mit der Familie Herzog waren noch einige andere Familien im Keller. Eine sehr ängstliche Frau war auch unter den Zufluchtsuchenden, sie betete meist die ganze Zeit, bis man wieder aus dem Keller herauskommen konnte und machte damit die übrigen Menschen sehr unsicher und ebenfalls ängstlich.
Beim Einmarsch der Amerikaner am Ostersonntag 1945 war Bruno in der bereits um 6 Uhr stattfindenden Frühmesse, die man aus Sorge vor Fliegerangriffen so zeitig angesetzt hatte. Während des Gottesdienstes wurden die Gläubigen durch die Rufe einer Frau aufgeschreckt, die in die Kirche rief, dass der Feind komme.
Die noch in Weiher stationierten deutschen Soldaten setzten sich gegen Mittag in Richtung Osten ab. Von ihnen erfuhr man, dass sich die amerikanischen Soldaten bereits beim Hardtwald befanden. Die Burschen um Bruno schauten sich das neugierig an, als sie jedoch die unzähligen Panzer vor dem Waldrand sahen, liefen sie schleunigst wieder heim.
Gegen Abend kamen die amerikanischen Panzer ins Dorf, und Peter, der italienische Kriegsgefangene, trat vor das Hoftor des Händelschen Anwesens, um die Panzer zu beobachten. Bruno durfte in seinem Schutz ebenfalls den Durchzug der Amerikaner beobachten. Sie zogen in Richtung Stettfeld ab.
Ungefähr 600.000 italienische Soldaten wurden in der Zeit zwischen September 1943 und Mai 1945 interniert. Das Deutsche Reich verweigerte den Soldaten des ehemaligen Verbündeten Italien den Status von Kriegsgefangenen, verlieh ihnen den Status von Militärinternierten und setzte sie als Zwangsarbeiter ein. Etwa 45.000 italienische Kriegsgefangene verloren ihr Leben.
Einige Tage später marschierten die Franzosen ein und mit ihnen ein großes marokkanisches Regiment. Zum guten Glück wurde die Familie Händel von allen Plünderungen verschont.
Bruno konnte in der Folgezeit eine lustige Szene mit einem Besatzungssoldaten beobachten, der ihn mit einem weinenden und einem lachenden Auge zurückließ: Einige Häuser entfernt von Brunos Elternhaus wurde von einem marokkanischen Soldaten ein Fahrrad „requiriert“. Da er jedoch nicht damit fahren konnte, stürzte er prompt wieder ab. Der kleine Bruno musste deshalb so lachen, dass der Soldat auf ihn aufmerksam wurde. Er eilte auf den Buben zu, packte ihn und klemmte ihn sich unter den Arm. Bruno bekam es richtig mit der Angst zu tun, wurde jedoch mit einer Tafel Schokolade und einem Klaps entlassen.
Der Schüler Bruno hatte im ersten Schuljahr ein unerfreuliches Erlebnis, als ihn die Lehrerin, eine überzeugte Nationalsozialistin, nach dem Geburtstag von Adolf Hitler fragte und er die Frage nicht beantworten konnte. Dafür erntete er kräftige Schläge mit dem Stecken auf die Finger.
Weil viele männliche Lehrkräfte zur Wehrmacht eingezogen waren, wurden die in Weiher verbliebenen deutschen Lehrer durch drei Frauen aus dem Elsass unterstützt. Die Lehrerinnen waren sehr gut ausgebildet und hatten hohe pädagogische Maßstäbe. Sie wurden von den Weiherer Kindern geliebt, da sie zu ihnen sehr gut und verständnisvoll waren.
Mit dem Abschluss des Westfeldzugs 1940 besetzte die deutsche Wehrmacht das Elsass, unterstellte es einer reichsdeutschen „Zivilverwaltung“ und schloss es mit dem Gau Baden zum neuen Gau Baden-Elsass zusammen. Von den etwa 130.000 Volksdeutschen im Elsass wurden viele im alten Reichsgebiet zur Arbeit verpflichtet.
Wie in anderen Orten wurden auch in Weiher von den Schülern Kräuter für Tee gesammelt. Diese sollten zur Behandlung der Soldaten im Lazarett verwendet werden. Im Schulgebäude wurden unter der Aufsicht von Lehrer Deißler durch ältere Jahrgänge Seidenraupen gezüchtet, sie sollten zur Produktion von Fallschirmseide für die Wehrmacht verwendet werden. Die Schüler der jüngeren Jahrgänge sammelten dafür Maulbeerblätter. Beim „Forlenbuckel“ war eine ganze Anlage mit Maulbeerbüschen, deren Blätter als Futter für die Seidenraupen abgesammelt wurden.
In den Anfangszeiten der Fliegerangriffe gingen die Lehrer bei Fliegeralarm während der Schulzeit geschlossen mit der Klasse in den Schutzraum im Schulkeller. Nach einiger Zeit wurden die Kinder jedoch immer umgehend nach der Alarmierung nach Hause geschickt, wobei ihnen aufgetragen wurde, dass sie sich so schnell wie möglich und immer einzeln nach Hause begeben sollten.
Bruno, der 1945 zur Erstkommunion gehen sollte, wurde zusammen mit seinen Klassenkameraden und Kameradinnen in einer Notkommunion am Gründonnerstag gesegnet, da der Pfarrer Sorge hatte, dass die Menschen die Tage überstehen. Am Weißen Sonntag, eine Woche später und nach dem Einmarsch der Alliierten, wurde dann die reguläre Kommunionfeier nachgeholt. Brunos Mutter hatte für die kleine Gästeschar drei Kuchen backen können, dass der Zucker nur für zwei Kuchen reichte, störte dabei niemanden.
1943 kam der Vater zu Weihnachten kurz auf Urlaub nach Hause. Schnell war die Zeit vorbei und er musste über die Ostsee wieder zurück zu seiner Einheit. In den Wirren des Krieges fand er zunächst diese Einheit nicht, weshalb er sich einer anderen Truppe anschloss. Da er nicht zu seiner eigenen Einheit zurückkam, wurde er als vermisst gemeldet.
Der Schrecken bei der Familie war groß, zum einen wusste man nicht, ob der Vater und Ehemann noch lebte, zum anderen erhielt man auch keine Unterstützung mehr ab dieser Zeit. Bis zum Gründonnerstag 1947 hatte man keinerlei Hinweise auf das Verbleiben des Vaters. Da erreichte die Familie das erste Lebenszeichen in Form einer Postkarte aus russischer Gefangenschaft in Leningrad, heute St. Petersburg. Im Juli 1947 wurde er aus der Gefangenschaft entlassen. Krank und um Jahre gealtert, kam er morgens um 6 Uhr nach Weiher zurück. Bei Händels war noch das Hoftor abgeschlossen, sodass er über den Nachbarhof und den Garten auf das Familienanwesen gelangen musste. Bruno und die kleinen Schwestern erschraken vor dem „fremden Mann“ und erkannten ihren Vater zunächst nicht, die Mädchen hatten ja kaum noch Erinnerungen an den Vater. Die Schrecken des Krieges verfolgten Pius Händel sein ganzes Leben, erst im Alter fand er seinen Frieden.
Im Spätjahr 1945 fand wieder regelmäßiger Schulbetrieb, zunächst mit wenigen Lehrern, statt. Die Lehrer, die zur Wehrmacht eingezogen waren und wieder nach Weiher zurückkehrten, wurden zunächst von den Alliierten automatisch entlassen, um zu vermeiden, dass ehemalige NS-Funktionäre wichtige Ämter behielten. Die „Reeducation“, mithilfe derer die amerikanischen Besatzer die Deutschen zur Demokratie umerziehen wollten, sollte nämlich vor allem bei der Jugend beginnen. Deshalb war die „hohe Entnazifizierungsrate unter der Lehrerschaft und die Ausschaltung Belasteter“ eine wichtige Grundlage für den demokratischen Neuanfang. Daher konnten die Lehrer erst nach einer gründlichen Überprüfung wieder an Schulen unterrichten, oftmals wurden allerdings auch Pensionäre und von den Nationalsozialisten suspendierte Lehrer wieder zur Arbeit gebeten.
So nach und nach kehrte das Leben wieder in das Dorf zurück, einige Väter, Söhne und Brüder blieben jedoch für immer fort und hinterließen große Lücken in den Familien und im Dorf.
Autorin: Beate Harder mit den Erinnerungen von Bruno Händel