„Es gibt keine Online-Radikalisierung“
Während der „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ im März hielt Dr. Josephine Schmitt in Östringen einen Vortrag über Gefahren durch extremistische Botschaften im Internet. Eingeladen hatte die Integrationsbeauftragte der Stadt, Daniela Blech-Straub. Gefördert wurde die Veranstaltung vom Landkreis Karlsruhe.
In der Aula der Thomas-Morus-Realschule beleuchtete die wissenschaftliche Koordinatorin am Center for Advanced Internet Studies in Bochum Strategien von Extremisten im Netz. Vor einem großen Publikum stellte sie eines direkt zu Beginn ihres Vortrags klar: „Es gibt keine Online-Radikalisierung“, wie es oft heiße. Wenn sich eine Person radikalisiere, dann werde dies immer von einer Mischung aus individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst.
Sorgen und Unsicherheiten angesichts der aktuellen Krisen nutzten Extremisten gezielt, um Ängste zu schüren und vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Sachverhalte zu geben. Wer sich selbst benachteiligt, an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlt oder gar selbst Diskriminierung erfahren hat, sei besonders empfänglich für derlei Botschaften. Dies ziehe sich durch alle gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen, weiß die Expertin aus entsprechenden Studien.
Soziale Medien seien ein besonders guter Nährboden für Hassrede, weil Influencer ein großes Identifikationspotenzial böten. Als Beispiel zeigte die Referentin den Instagram-Kanal einer schönen, jungen Frau, die sich als äußerst naturverbunden und traditionell darstellt, Kochrezepte und Beauty-Tipps teilt. Erst auf den zweiten Blick, nämlich durch die Verknüpfung ihres Kanals mit faschistischen Portalen, werde ihre rechtsextreme Gesinnung erkennbar. „Die Grenzen zwischen politischer Information, Unterhaltung und Sozialem verschwimmen“, erläuterte Josephine Schmitt eine der typischen Methoden.
Je jünger die User, desto häufiger werden soziale Medien – gegenüber Online-Zeitungen, TV- und Nachrichtenanbietern – als Informationsquelle auch für politische Inhalte genutzt. Unter den 18- bis 24-Jährigen liegt der Anteil inzwischen bei über der Hälfte.
Drei von vier Personen aus dem Publikum kennen Hassrede im Internet, ein Viertel war oder ist selbst betroffen. Das entspreche dem gesellschaftlichen Durchschnitt, so die Referentin.
Doch wie reagieren auf Hassrede im Netz? Löschen oder Sperren sei nur eine Symptombehandlung und angesichts der Vielzahl an extremistischen Inhalten im Netz kaum machbar. Stattdessen müsse man das Übel an der Wurzel packen: „Wir müssen uns mit den gesellschaftlichen Problemen beschäftigen, die der Radikalisierung zugrunde liegen.“ Gerade für die Jüngeren seien identitätsstiftende und Gemeinschaft fördernde Angebote wie die von Vereinen wichtig, aber auch die Stärkung sozialer Kompetenzen allgemein: „Wir müssen lernen, Komplexität auszuhalten – dass es eben keine einfachen Antworten auf komplexe Sachverhalte gibt.“ Zu den wichtigen Gegenmaßnahmen gehöre auch, das Vertrauen in demokratische Strukturen (wieder) aufzubauen und gerade junge Leute an Entscheidungsprozessen zu beteiligen.
Betroffenen rät die Expertin, problematische Inhalte zu melden, und zwar der offiziellen Internet-Beschwerdestelle oder dem Jugendschutz:
www.internet-beschwerdestelle.de, www.jugendschutz.net/verstoss-melden.
Beratung und Hilfe bei Hatespeech bietet hateaid.org.
Für die Präventionsarbeit an Schulen empfahl Dr. Josephine Schmitt den zahlreichen Lehrkräften und Lehramtsanwärter/-innen im Publikum das „Kompetenznetzwerk Hass im Netz“, das auf seiner Webseite Wissenswertes und Unterrichtsmaterial zum Thema bietet.
dbs