Anarchie – Chaos oder Ideal? In der Ehemaligen Synagoge Hemsbach ließ Matthias Klösel mit Liedern und Texten Erich Mühsams das Bild eines kompromisslosen Freigeists aufleben – unbequem, aber faszinierend.
Was ist eigentlich Anarchie? Der Begriff ist negativ belegt, wird gerne mit Gewalt, mit Regellosigkeit verwechselt. Und was hat ein Anarchist wie Erich Mühsam in der Ehemaligen Synagoge zu suchen, auch wenn er dort ausdrücklich willkommen ist? „Noch einen einz'gen Taler nur: | für einen Schnaps, für eine Hur! | Das Leben ist versaut, versaut! | Nur einen Taler! Helft mir doch! | Wer pumpt mir einen Taler noch?“, singt Matthias Klösel mit fordernder, mit flehender Stimme Erich Mühsams Gedichttext „Im Bruch“. Er ist Leiter und Schauspieler der Theaterwerkstatt Augsburg.
Mitgebracht in die Ehemalige Synagoge hat er Gedichte, Texte, Lieder von Erich Mühsam, Publizist, Dichter, Kabarettist, Antimilitarist, zeitgenössisch expressionistischer Freigeist, Jude, Anarchist. 1878 in Berlin geboren, durchlebte Bürgerlichkeit des Deutschen Kaiserreichs, dessen kriegerischen Militarismus, revolutionäre Nachkriegsentwicklungen, kontrastierende Widersprüche gesellschaftlicher zu politischen Entwicklungen, seine Auflehnung, die ihn 1934 im KZ Oranienburg das Leben gekostet haben. „Im Bruch“ ist ein Gedicht, das Klösel mit Mühsams ständiger finanzieller Klammheit verbindet. „Sein Vater hat versucht, ihm die Bürgerlichkeit mit dem Rohrstock einzuprügeln“, sagt er über ihn. Vielleicht ist es das, was ihn zur Anarchie brachte. Im „Lumpenlied“ bringt Klösel Mühsams ganze Verachtung bürgerlicher Bigotterie zum Ausdruck: „Wo hat der Bürger alles her: | den Geldsack und das Schießgewehr? | Er stiehlt es grad wie wir, | ihr Lumpenvolk, ich spie euch an.“ Der letzte gesunge Vokal ist Titel der Veranstaltung: „Das seid ihr Hunde wert!“
Mühsam lernt Apotheker, wird aber 1902 Redakteur bei einer anarchistischen Zeitung, findet Anschluss an freigeistige expressionistische Künstler, Literaten. Er reist mit dem Schriftsteller Johannes Nohl, zeitweise sein Lebensgefährte, Verfechter der freien Liebe, „trotz Tripper“, durch Europa, auch nach Monte Verità in der Schweiz, in die Kolonie der Lebensreformer, so eine Art Hippiedorf freigeistiger Elite Europas. „Wir essen Salat, ja, wir essen Salat. Und essen Gemüse früh und spat“, rezitiert Klösel die spöttischen Gedichtzeilen, die Mühsam dazu verfasst hat. Es sind so einige Mühsam-Texte und -Gedichte, die Matthias Klösel am Abend dramaturgisch liest, statt zu singen. In deren Metamorphose zu Rebellenliedern sitzt ihm Tom Gratza am Klavier zur Seite. Gratza ist begnadeter musikalischer Analytiker der Seele Mühsams, der Klösels gesprochenen Worte wie filmmusikalisch einhegt. Großartig. Das „Kriegslied“: „So stirbt der edle Kriegerstand, | in Stiefel, Maul und Ohren Sand | mit Gott für König und Vaterland“, ist so ein Beispiel des Duos.
Auch die Ballade „Seenot“, die den Umgang eines virtuellen Eigners des Dampfers mit dem Namen Deutschland vertont, der in schwerer See zu sinken droht, ist schneidend eindringlich. Der Eigner an Bord verlangt, dass bevor er sein Gold im Frachtraum opfert, die Mannschaft ihr Hab und Gut über Bord wirft und die Passagiere von Bord gehen sollen, um Ballast loszuwerden. 1915 heiratet Mühsam, ganz bürgerlich, Kreszentia Elfinger, „eine Bauerntochter“, wie Klösel sagt, die Mühsam in der Kriegszeit bis 1918 bei seinen antimilitaristischen Aktionen unterstützt, später nach seiner Ermordung im KZ seinen Nachlass vor den Nazis sichert. Kurt Tucholsky, Schriftsteller und Kabarettist, vor dem sich Mühsam nicht verstecken braucht, gibt mit dem Lied vom Kompromiss: „Durch Deutschland geht ein tiefer Riss. | Dafür gibt es keinen Kompromiss!“, eine Einlage, gesungen von Matthias Klösel. 1919 die Revolution mit dem Versuch – Mühsam ist vorne mit dabei – in Bayern eine Räterepublik zu schaffen. Der wird von SPD-Regierungsmitglied Ernst Schneppenhorst mit einem Freikorpseinsatz niedergeschlagen. Mühsam erhält 15 Jahre Festungshaft, von denen er 5 absitzt.
Zur Melodie von „O Tannenbaum“ lässt Mühsam das Augsburger Duo „O Schneppenhorst, o Schneppenhorst | Du Vaterlands-Befreier | Du schlägst mit Lieberich den Nutt | Mit Epp und Möhl das Volk kaputt | Dein Lob singt jeder Bayer“, anstimmen.
Ja und was bedeutet zum Schluss Anarchie genau? Erich Mühsam selbst definiert sie als Gesellschaftsordnung ohne Herrschaft, ohne Staat. Verneinung von Macht sei ihr maßgebliches Wesensmerkmal. Ein ganz edles, wenn auch experimentelles Ziel. Regellosigkeit und Chaos hat sich Mühsam dabei nie zu eigen gemacht.
Schade nur, wenn es die Furcht vor Anarchie gewesen sein sollte, weshalb mit 30 Zuhörern ein recht kleines Publikum in der Synagoge war. Der Auftritt von Matthias Klösel und Tom Gratza und der Geist der wahren Anarchie Erich Mühsams wäre ein volles Haus wert gewesen.
Patrick Baumgärtner, der Vorsitzende des Fördervereins Ehemalige Synagoge, erkennt in dem Auftritt der Augsburger Theaterwerkstatt eine schlagende Aktualität. Sein nachdenklicher Kommentar zur anarchistisch-pazifistischen Haltung Mühsams: „Die Lehre aus Hitler und dem Nationalsozialismus ist, dass trotz aller Zurückhaltung manchmal gekämpft werden muss“. (ben)