Die Erfahrung, dass Kunst – oder auch Musik – als entartet oder widernatürlich angesehen werden, wenn sie nicht irgendwelche festgelegten Regeln befolgt, ist grenzenlos und zeitlos. Wider die Natur – oder Französisch: „Contre Nature“ – hieß das Projekt des experimentellen Musikkollektivs „Graindelvoix“ um Björk Schmelzer aus Antwerpen.
Es war kein ganz einfacher Ausflug ins 14. Jahrhundert, als Graindelavoix am ersten Donnerstagabend im Juni im „Langen Saal“ des Schlosses à capella auftrat. Das Vokalensemble bestand aus vier Sängern mit den Stimmlagen Bass, Bariton, Tenor und Countertenor, sowie zwei Sopranistinnen. Insgesamt führten sie neun Lieder aus der Zeit des späten Mittelalters auf.
Und damit man nicht ganz allein gelassen wurde mit der doch recht ungewöhnlichen Musik, gab es eine Vor- und eine Nachbesprechung. - Das 75-minütige, gut besuchte Konzert war Teil des Mannheimer Sommers.
Es gab zwei Möglichkeiten, sich dem Dargebotenen zu nähern. Entweder man ließ alle möglichen Erwartungen und Vorurteile hinter sich, öffnete Ohren und Herzen und genoss ganz einfach: Lebendige, gefühlvolle Stimmen, die sich im Raum von links nach rechts bewegten, tänzelnd sich umspielend, zusammenkommend, kurze parallele Wege und Einklang findend, sich verflechtend und wieder trennend, um dann wieder ein anderes Spiel zu beginnen.
Eindeutig identifizierbare, fortlaufende Melodien, Strophen, durchgängige Rhythmen oder wenigstens verstehbare Texte fehl am Platz. Die Gedanken konnten fließen. So beschrieb eine Besucherin das Erlebnis als „Meditativ“. „Beruhigend“, sagte eine andere. Oder man setzte sich vorher oder der danach informativ mit der Musik auseinander: Der provokanten Titel „Contre Nature“ lädt dazu ein.
Das Konzert begann mit dem „Sanctus“ aus der „Messe de Nostre Dames“ von Guillaume de Machaut, einem in der Champagne geborene Kanoniker der gerade fertiggestellten Kathedrale von Reims.
Diese Messe, aus der auch später noch das „Agnus Dei“ folgte, ist ein musikgeschichtlicher Meilenstein: Sie ist eine der ältesten polyphonen Vertonungen der katholischen Liturgie, des Ordinariums. Polyphonie war jener Zeit ein Novum.
Davor waren die liturgischen Gesänge einstimmige „Gregorianische Choräle“. Die Zeitgenossen des 14. Jahrhunderts belegten diese ältere, einstimmige Kompositionstechnik mit dem Begriff „ars antiqua“.
Dem entgegen stand die Polyphonie, die „ars nova“, neue Kunst. Kurz zur Erklärung: In der Polyphonie entwickelten sich die verschiedenen Stimmen selbständig, also nicht als unterordnende Begleitung, sondern als eigenständige Melodie und sogar mit eigenem Rhythmus. Lag die melodieführende Stimme bei der alten Technik noch beim tiefen Tenor, so wies Guillaume de Machaut – zu seiner Zeit einer der größten Komponisten und ein Avantgardist – die Melodieführung der Oberstimme zu, so wie wir es übrigens heute gewohnt sind. Bei aller Kompliziertheit gab es feststehende Regeln.
Dennoch rief diese komplexe Musik Kritik – und sogar zeitweilig Verbote - der seit jeher eher konservativen Kirchenväter hervor mit der Begründung, sie sei „widernatürlich“. Aber Machaut und seine Nachfolger komponierten auch für den Adel, der die Einwände der Kirche nicht weiter beachtete.
Vielmehr haben die Nachfolger Machauts die polyphone Musik noch verfeinert; es entstand eine Art Manierismus, ein Begriff aus der bildenden Kunst, bei der Dinge noch verkünstelter dargestellt werden. Die Musikhistoriker nennen diese Weiterentwicklung im ausgehenden 14. Jahrhundert „Ars subtilior“.
„Seltsam, befremdlich, voller Dissonanzen und ungewöhnlicher Sprünge“ sei die Musik – so steht es im begleitenden Text zu dem Konzert in Schwetzingen.
Die Kanons „Hélas Avril“ von Matteo da Perugia und „Le ray au soleyl“ von Johannes Ciconia sind Beispiele dafür, dass die gleiche Melodie in verschiedenen Tempi gesungen werden; sie wirken so, als bewegten sie sich gleichzeitig vor- und rückwärts.
Die Ballade „Science na nul annemi“ – Das Wissen hat keinen Widersacher - von Matteus de Sancto Johanne weist nahezu theatralisch-emotionale Momente auf: „Qui plus haut crie: "Hay avant," c'est trop bien fait, disons ainsy“ (Wenn jemand mit lauter Stimme schreit: "Ich sage: Vorwärts!" übertrifft er sich gewissermaßen selbst.) klang wie ein zweistimmiger Ruf mit Echo oder Imitation.
Das Seltsame wird zum Wunder, zum „mirabilium“, zum „merveil“, zum „Ungeheuerlichen“. Hatte man die alten Gesetze der Musik als Natur gegeben und Gott gefällig interpretiert, so wurde das neue zum „Widernatürlichen“. Widernatürlich aber bedeutet nicht zwangsläufig, dass es das nicht gibt oder geben darf, sondern fordert zu einer Auseinandersetzung auf.
Dieser Auseinandersetzung stellen sich Graindelavoix. Denn, so der Gründer Björn Schmelzer, einerseits wehre er sich gegen klischeehafte Assoziationen in Bezug auf Alte Musik; andererseits sei die Musik der Vergangenheit unser Erbe, eine Reflektion über die Probleme der Zeit und damit wiederum zeitgenössisch.
Für Musizierende und auch Hörerschaft von heute erlangt die Aufführungspraxis eine prominente Bedeutung. Auf der Suche nach dem lebendigen Kern (Name der Gruppe heißt tatsächlich übersetzt: Korn der Stimme) stehen nicht im klassischen Sinne geschulte Stimmen im Vordergrund, sondern die Kraft des individuellen Ausdrucks und der kreativen Interpretation der Sängerinnen und Sänger aus unterschiedlichen Kulturkreisen.
Für die Zuhörenden wird die Darbietung dadurch erdig, greifbar und auf wundersame Weise emotional nachvollziehbar. So endete das Konzert mit einem kräftigen Applaus. (rw)