Liebe Leserinnen und Leser, wenn die Bibel von Fremden spricht, taucht mehrfach dieselbe Wendung auf: „Ihr wisst ja, wie dem Fremden zumute ist. Denn ihr selbst seid Fremde gewesen.“ (z. B. Exodus 23,9) Das Volk Israel erinnert sich immer wieder an eigene Zeiten in der Fremde. An die Sklaverei in Ägypten denken Menschen jüdischen Glaubens jedes Jahr beim Pessach-Fest. Dass wir die Pflicht haben, Fremde aufzunehmen: In der Bibel ist das eine klare Sache.
Ich glaube, es geht dabei nicht so sehr um eine Frage der Moral. Für mich ist es eine Frage der Welt-Wahrnehmung. Mit welchem Blick schaue ich in die Welt und auf die Menschen? Gelingt es mir, mich im anderen, im Fremden, wiederzuerkennen? Wer weiß, wann der Tag kommt, an dem auch ich wieder ein Fremder sein werde. Vor diesem Hintergrund macht es mich traurig, dass so viele US-Katholiken im November Donald Trump gewählt haben – und das sehr wohl darum wissend, was er in Sachen Abschiebungen plant. So langsam dämmert es ihnen, was Trumps Abschiebungspläne bedeuten und welch schwerwiegende Auswirkungen diese auf christliche Familien und Gemeinden in den USA haben: Jeder fünfte Katholik und jeder zwölfte Christ in den Vereinigten Staaten ist laut einer aktuellen Studie der katholischen US-Bischofskonferenz entweder selbst von Abschiebung bedroht oder wohnt in einem Haushalt mit jemandem, der abgeschoben wird.
Diese Studie stützt sich auf eine umfassende Datenanalyse und kommt zu dem Schluss, dass mehr als zehn Millionen christliche Einwanderer in den USA von Abschiebung bedroht sind – einschließlich derjenigen, die einen befristeten Schutz genießen, der aufgehoben werden könnte, so etliche tausend Ukrainer*innen. Weiter lebten fast sieben Millionen Christen, die US-Bürger sind, in einem gemeinsamen Haushalt mit einer von Abschiebung bedrohten Person. Die Studie hält fest, 80 Prozent der von Abschiebung bedrohten Einwanderer bezeichneten sich als Christen, davon 61 Prozent als Katholiken und 13 Prozent als evangelikale Christen.
Doch es geht nicht allein um Christen, und die Auftraggeber der Studie weisen im Vorwort eigens darauf hin, dass alle Menschen, unabhängig von ihren religiösen Überzeugungen, nach dem Bilde Gottes geschaffen seien und eine angeborene Würde hätten: "Wir vermuten, dass vielen amerikanischen Christen nicht bewusst ist, dass unter den Einwanderern, die von Abschiebung bedroht sind, wie dieser Bericht zeigt, die große Mehrheit – vier von fünf – Mitchristen sind."
Ich hoffe sehr, dass die katholischen US-Bischöfe in der Migrationspolitik endlich ein deutlich größeres Gleichgewicht in der Migrationspolitik zwischen Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Verhältnismäßigkeit einfordern. Abschiebung ist schließlich nur eine von vielen Optionen. Auch Alternativen, die nicht anerkannten Einwanderern die Möglichkeit bieten, einen legalen Einwanderungsstatus zu erhalten, müssen diskutiert werden.
Ermutigende Zeichen gibt es jedenfalls, so einen Protestmarsch in der texanischen Grenzstadt El Paso, der von dessen katholischem Bischof Mark Seitz angeführt wurde. Er und weitere Redner beklagten, dass die US-Regierung einer Hilfsorganisation – sie leistet unbegleiteten minderjährigen Migranten juristischen Beistand – kürzlich die Mittel entzogen hat, und zeigten die Konsequenzen auf: Die Betroffenen sind vor Gericht nun völlig auf sich allein gestellt und müssten dort ihren Asylantrag begründen. Auch wurde berichtet, dass inzwischen "Kopfgeldprämien" gezahlt würden: Wer einer Behörde Hinweise gebe, die zur Ergreifung von Migranten ohne gültige Aufenthaltspapiere führten, erhalte zur Belohnung 1.000 US-Dollar.
Die Menschen lauschten fassungslos den Ausführungen und machten sich dann auf den Weg durch El Paso. An der Seite von Bischof Seitz fanden sich weitere Bischöfe aus aller Welt. Der Vatikan hat eigens einen Kurienkardinal nach El Paso geschickt: Fabio Baggio.
Als sich der Protestmarsch durch Downtown El Paso in Bewegung setzt, kommen aus den Fast-Food-Lokalen und Billigboutiquen die Arbeiter hervor, die für kleines Geld die Jobs erledigen, zu denen kaum ein weißer US-Amerikaner bereit ist. Sie alle verfolgen den Marsch mit einem Lächeln und man spürt, dass es ihnen guttut, dass jemand für ihre Rechte eintritt. Bischof Seitz ist davon überzeugt, dass sein Heimatland auf einem falschen Weg ist und Milliarden Dollar dafür ausgibt, um sich abzuschotten, anstatt in Integration zu investieren. Er fordert einen Stopp der Massenabschiebung und hofft auf eine Signalwirkung, die anhält: "Heute haben wir damit einen Anfang gemacht." Möge er recht behalten.
Ihr Pfarrer Ronny Baier