Von Susanne Hilz-Wagner
Von meinem Hohen Turm auf dem Turmberg blicke ich zurück und denke an die Reichs-Progromnacht am 10. November 1938, die auch Karlsruhe betraf. Das veranlasst mich, das einstige jüdische Leben in Grötzingen und Durlach etwas näher zu beleuchten, von dem ich euch heute berichten werde.
Bereits seit mittelalterlicher Zeit lebten Juden in Durlach und später auch in Grötzingen. Markgraf Karl III. Wilhelm von Baden übernahm im Jahre 1709 den badischen Thron und trat damit die Nachfolge seines verstorbenen Vaters, Markgraf Friedrich Magnus von Baden, an. Im Jahre 1715 gründete er Karlsruhe und verlegte seine Residenz dorthin. In seinem Privilegienbrief für alle Neu-Zugezogenen gewährte er u. a. auch Religionsfreiheit für alle Religionen. Daraufhin zogen ab 1717 auch jüdische Familien nach Karlsruhe; diese junge jüdische Gemeinde legte hier 1724 eine Synagoge, eine Mikwe und einen Friedhof außerhalb der Stadt an. Sie hatte um 1800 bereits über 530 Mitglieder. 1806 konnte die neu errichtete Synagoge in der Kronenstraße eingeweiht werden, die Friedrich Weinbrenner erbaut hatte. Mit dem sogenannten großherzoglichen „Judenedikt“ im Jahre 1809 wurde die Gleichstellung der jüdischen Mitbürger zur Gesamtbevölkerung eingeleitet. In dieser Zeit kam es zur Gründung des Oberrates der Israeliten Badens, der in Karlsruhe beheimatet wurde. Es schlossen sich viele jüdische Firmen im 19. Jahrhundert dem wirtschaftlichen Leben in Karlsruhe an. 1871 zerstörte ein Feuer die Weinbrenner-Synagoge. Lediglich Teile des Eingangstores mit der goldenen Aufschrift "Und er brachte mich zum Eingang des Hauses des Herrn" (Ezechiel 8,14) blieben verschont. Daraufhin wurde eine neue Synagoge nach Plänen von Prof. Josef Durm gebaut, die im Mai 1875 eingeweiht werden konnte. 1925 zählte Karlsruhe 3.386 jüdische Einwohner, die in vielen wirtschaftlichen und politischen Bereichen der Stadt vertreten waren, dazu kamen religiöse Stiftungen und wohltätige Vereine. Vor 1933 gab es in Karlsruhe neben den beiden Synagogen auch einen Kindergarten, eine Schule, ein israelitisches Krankenhaus, zwei Altersheime, ein Heim für Arbeitslose, Sport-, Turn- und Kulturvereine sowie eine Vielzahl weiterer jüdischer Einrichtungen. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 sind die meisten Karlsruher Juden ins Exil gegangen. Viele jüdische Industrie- und Handelsunternehmen wurden beschlagnahmt. Beide Synagogen in Karlsruhe wurden in der Progromnacht 1938 in Brand gesetzt. Die Synagoge in Grötzingen wurde ebenfalls zerstört. Von den letzten in Karlsruhe verbliebenen Juden wurden am 22. Oktober 1940 etwa 940 Personen nach Südfrankreich in das Internierungslager nach Gurs und von dort teilweise weiter in Richtung Osten verschleppt; nur wenige überlebten diese Zeit.
Nach Kriegsende lebten noch etwa 60 Juden in Karlsruhe, die am 1. Dezember 1945 die Jüdische Kultusgemeinde Karlsruhe gründeten. Im ehemaligen Vorstandszimmer der früheren Israelitischen Gemeinde, in der Herrenstr. 14, bauten sie eine provisorische Nachkriegssynagoge und weihten diese 1951 ein. Bis Mitte der 1980er-Jahre bildete die Jüdische Kultusgemeinde Karlsruhe mit der Jüdischen Gemeinde Pforzheim eine Synagogengemeinschaft und errichteten von 1968-1971 in der Knielinger Allee eine neue Synagoge mit Gemeindezentrum. Dieses ist zugleich Sitz des Oberrates der Israeliten. In den 1990er-Jahren kamen gerade auch durch Zuwanderung neuer Mitglieder aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion neue Mitglieder dazu. Heute ist die Jüdische Kultusgemeinde Karlsruhe nach eigenen Angaben gesellschaftlich und kulturell fest in der Fächerstadt verankert; sie pflegt intensive Kontakte zu Kommunen und Institutionen und ist ein offenes Haus, dem die freundschaftlichen Beziehungen zu anderen Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen wichtig sind. Interessierte, die das Judentum kennenlernen möchten, sind von der Jüdischen Gemeinde jederzeit herzlich willkommen. Die Gemeinde bietet auch Führungen durch ihre Synagoge nach Voranmeldung an.
Auch in Grötzingen wurde die Synagoge am Mittag des 10. November 1938 zerstört. Seit 1983 erinnert eine Stele am Ort der einstigen Synagoge an die Menschen der Jüdischen Gemeinde im Dorf Grötzingen. Die christlichen Gemeinden und die Ortsverwaltung Grötzingen luden für den 9. November, ab 19 Uhr, zum „Gebet an der Stele“ in der Krummen Straße zu einem gemeinsamen Gedenken der damals ermordeten Mitbürgerinnen und Mitbürger ein. Pfarrer Markus Wittig, Vikarin Simone Hankel sowie der Posaunenchor der Evangelischen Kirche Grötzingen begleiteten die Gebete und die Kirchenlieder aus dem evangelischen Gesangbuch an diesem Abend. Pfarrer Wittig sprach von einer Nacht des Grauens und forderte auf, bewusst gemeinsam füreinander einzutreten. Gemeinsam mit Begleitung des Posaunenchors sangen die Anwesenden die Lieder Nummer 136: „O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein“, die Nummer 382: „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr, fremd wie dein Name sind mir deine Wege …“ sowie das Lied Nummer 662: „Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut für die Ängste, für die Sorgen, für das Leben heut und morgen …“. Vikarin Henkel sprach u. a. im Wechsel mit den ca. 80 anwesenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern vor der Stele den Psalm 74, übersetzt nach dem hebräischen Versmaß. Nach dem gemeinsamen Abschlussgebet, dem „Vaterunser“ und Bitten von Pfarrer Wittig für die Menschen und um Gottes Segen war die kleine Gedenkfeier beendet. Möge allen Menschen auf dieser Erde Frieden und Freiheit beschert sein. Herzlichst, eure „Weiße Frau vom Turmberg“.