Die Entscheidung, welche weiterführende Schule ein Kind nach der vierten Klasse besucht, wird ab diesem Schuljahr durch ein neues Verfahren ergänzt. Neben der bisherigen Grundschulempfehlung durch die Klassenkonferenz gibt es nun den "Kompass 4"-Test als zusätzlichen Orientierungspunkt. Dieser wurde erstmals im November an allen Grundschulen Baden-Württembergs einheitlich durchgeführt. Zudem gibt es mit dem Potenzialtest eine dritte Möglichkeit, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Doch was bedeutet das für Kinder, Eltern und Lehrkräfte?
Bisher entschied die Klassenkonferenz über die Grundschulempfehlung. Grundlage war der Notendurchschnitt in Deutsch und Mathematik: Bis 2,5 gab es eine Gymnasialempfehlung, von 2,5 bis 3,0 war es eine Realschulempfehlung und wer schlechter als 3,0 war, für den blieb eine Werkrealschulempfehlung. Diese Einstufung diente jedoch lediglich als Orientierung. „Es gibt noch andere Sachen, die sich die Lehrer anschauen“, erklärt Guido Störk, Schulleiter der Fünf-Täler-Schule. „Zum Beispiel, wie selbstständig ein Kind arbeitet.“ Letztendlich wurde durch Abstimmung in der Klassenkonferenz entschieden, welche Schule für das Kind empfohlen wird. Dabei kam es immer wieder zu Grenzfällen, in denen die persönliche Entwicklung des Kindes eine entscheidende Rolle spielte.
Mit „Kompass 4“ wurde erstmals ein standardisierter, landesweiter Test eingeführt. Die Schüler mussten Aufgaben in Deutsch und Mathematik lösen, die online mit einem Passwort freigeschaltet wurden – für alle Viertklässler in Baden-Württemberg am gleichen Tag. Ein Nachtermin wurde ebenfalls landesweit festgelegt.
Die Aufgaben und die Auswertung waren klar vorgegeben. In einer Tabelle konnten Lehrer genau sehen, wie viele Aufgaben richtig waren und welcher Prozentsatz einer bestimmten Schulart entsprach. Die Idee dahinter: eine objektivere Beurteilung der Fähigkeiten der Kinder, unabhängig von individuellen Einschätzungen der Lehrkräfte.
Doch das Ergebnis überraschte viele. „Der Test war sehr umfangreich – viele Kinder konnten ab einer bestimmten Seitenzahl keine Aufgaben mehr bearbeiten“, berichtet Störk. Die Folge: Viele schafften nur einen Teil der Aufgaben, was im Vergleich zu den Empfehlungen der Klassenkonferenz zu deutlich weniger Gymnasialempfehlungen im Kompass führte. „Das ist ein Politikum“, so der Schulleiter. „Wissenschaftler haben die Aufgaben erstellt und gingen davon aus, dass Viertklässler das bewältigen können – die Realität sah aber anders aus.“
Obwohl die Grundschulempfehlung weiterhin maßgeblich bleibt, können Kinder ohne Gymnasialempfehlung durch die Klassenkonferenz, durch den Kompass-Test eine zusätzliche Chance erhalten.
War auch dieser Test nicht erfolgreich, gibt es mit dem Potenzialtest am Gymnasium eine dritte Möglichkeit.
Nur wenn alle drei Verfahren negativ ausfallen, darf ein Kind definitiv nicht auf das Gymnasium wechseln. „Das ist die neue Verbindlichkeit“, erklärt Störk. Das Ziel sei es, einen „gesetzteren Zugang“ zum neunjährigen Gymnasium (G9) zu schaffen und zu verhindern, dass es überrannt wird. G9 war bislang ein Schulversuch, nun gibt es genauere Regelungen.
Was hält der Schulleiter des Enztal-Gymnasiums, Andreas Enderle, von dem neu eingeführten Potenzialtest? „Ich betrachte den Potenzialtest zusammen mit Kompass 4 an den Grundschulen als einen wichtigen und unverzichtbaren Bestandteil für die Anmeldung an einem Gymnasium. Man kann sicherlich argumentieren, dass der Personal- und Verwaltungsaufwand am Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) und an den Gymnasien für etwa zwei Prozent aller Viertklässler, die den Test bestanden haben, hoch ist, doch ich selbst hätte nicht mit landesweit 639 erfolgreichen Testergebnissen beim Haupttermin gerechnet. Dies entspricht rund 31 Prozent der Testanten. Es hat sich gezeigt, dass auch beim Potenzialtest wie bei der Kompetenzmessung Kompass 4 der mathematische Aufgabenteil die größte Herausforderung darstellte.“ Andreas Enderle weiter: „Die verbindliche Grundschulempfehlung als pädagogische Gesamtwürdigung der Leistung des Schülers durch die Klassenkonferenz besitzt aus meiner Sicht die höchste Aussagekraft als die Testverfahren, die eine Momentaufnahme darstellen. Im Nordschwarzwald haben sich auch in diesem Jahr wieder etliche Schüler trotz einer Empfehlung für das Gymnasium für eine andere Schulform entschieden. Das ergab eine erste, noch unvollständige Bilanz unter den Gymnasien im Sprengel.“
Während einige Eltern den neuen Kompass-Test als objektive Entscheidungshilfe begrüßen, gibt es auch kritische Stimmen. Sabrina Theurer-Bott, Elternbeiratsvorsitzende an der Fünf-Täler-Schule und Mutter eines Drittklässlers, sagt: „Die Rückkehr zur verbindlichen Grundschulempfehlung war überfällig, sollte jedoch konsequenterweise auch für die Realschule gelten. Die Einführung des Kompass-Tests kann eine wissenschaftlich fundierte Entscheidungsgrundlage bieten und somit mehr Chancengleichheit schaffen. Lehrkräfte und Eltern erhalten eine wissenschaftlich gestützte Einschätzung. Allerdings erhöht ein zusätzlicher Test den Druck auf Viertklässler und kann nicht alle Fähigkeiten und Potenziale eines Kindes abbilden. Soziale oder kreative Stärken werden beispielsweise nicht erfasst. Der Test sollte als Ergänzung, aber nicht als alleinige Entscheidungsgrundlage dienen. Die Einschätzung der Lehrkräfte, die die Schüler am besten kennen, darf nicht an Bedeutung verlieren.“
Andrea Schulz, deren Sohn in der vierten Klasse ist, schildert ihre persönlichen Erfahrungen: „Unser Sohn war durch die zusätzlichen Klausuren zeitweise sehr unter Druck gesetzt. Es fühlte sich für uns alle an wie die Abschlussprüfung der Grundschule. Die Leistungen sind aber keinesfalls vergleichbar.“
Störk betont, dass kein Kind durch eine Schulwahl in der vierten Klasse festgelegt sei. „Man kann immer wieder wechseln. Selbst wenn ein Kind auf der Werkrealschule beginnt, kann es später noch das Abitur machen. Es wird oft so getan, als sei die Entscheidung nach Klasse 4 endgültig – das stimmt nicht.“ Entscheidend sei, dass Kinder Erfolgserlebnisse haben und gerne zur Schule gehen. „Wenn ein Kind scheitert, leidet das Selbstbewusstsein – und das oft über Jahre hinweg.“
Es gebe immer wieder Fälle, in denen Kinder nicht oder zu spät die Schulart gewechselt hätten und jahrelange Frustration erlebten. „Das neue Verfahren schützt die Kinder auch vor falschen Erwartungen der Eltern. Das Wichtigste ist, dass das Kind gerne zur Schule geht und Erfolg hat. Denn wer Erfolg in der Schule hat, geht mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein ins Berufsleben“, so Störk.
Der "Kompass 4"-Test wird im November erneut stattfinden – landesweit und mit denselben Bedingungen. Allerdings sollen die Erfahrungen aus der ersten Durchführung in die Weiterentwicklung des Tests einfließen.
Ein zentrales Anliegen ist dabei, die Aufgaben und die Testdauer zu überprüfen – vor allem in Mathematik. Erste Rückmeldungen zeigen, dass viele Schüler mit bestimmten Fragen Schwierigkeiten hatten und einige Aufgaben möglicherweise überarbeitet werden müssen. Ob sich das neue System langfristig bewährt, bleibt abzuwarten.
Was ändert sich am Enztal-Gymnasium?
Im kommenden Schuljahr steht das Enztal-Gymnasium vor einigen Veränderungen, die besonders das neue G9 betreffen. Schulleiter Andreas Enderle erklärt, was sich genau ändern wird.
Mehr Fokus auf MINT und Zukunftskompetenzen:
„Im neuen G9 werden die MINT-Fächer sowie die Zukunftskompetenzen Informatik, Künstliche Intelligenz und Medienbildung noch stärker betont“, erklärt Enderle. Dies bedeutet, dass die Stundenzahl in den Fächern Chemie, Physik, Informatik und Medienbildung erhöht wird. Allerdings fällt das bisherige Profilfach IMP (Informatik, Mathematik, Physik) weg und wird mit NWT (Naturwissenschaft und Technik) zu einem neuen Profilfach namens NIT (Naturwissenschaft und Informationstechnik) zusammengeführt.
Die Themen Demokratiebildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung gewinnen an Bedeutung und werden in die Fächer Geografie und Gemeinschaftskunde integriert. Der Stundenumfang in Gemeinschaftskunde wird um zwei Stunden erhöht. Die zusätzliche Stunde Geografie war bereits im Modellversuch Teil des Plans.
Auch die berufliche Orientierung bekommt mehr Raum. Das Fach Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung wird durch neue Praktikums- und Praxiselemente erweitert. WBS erhält eine zusätzliche Stunde, die bisher nicht im Modellversuch vorgesehen war.
„Obwohl das neue G9 die Grundlagen in Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache stärker berücksichtigt als das G8, gibt es bei Deutsch und Englisch kleinere Einbußen“, so Enderle. Dies liegt daran, dass diese Fächer im bisherigen G9-Modell mehr Poolstunden erhalten haben. Insgesamt stehen den Gymnasien nun nur noch acht Poolstunden pro Klassenzug zur Verfügung – deutlich weniger als die 13,7 Stunden im alten Modell.
In der achten Klasse beispielsweise müssen Schüler künftig zehn einstündige Fächer belegen, statt der drei in der bisherigen Stundenverteilung. Die Zahl der Fächer steigt dadurch von 13 auf 17. „Das ist ein kleines Ärgernis“, so Enderle. Die hohe Anzahl an ein- bis dreistündigen Fächern macht es notwendig, das Doppelstundenmodell aufzugeben und eine neue Regelung der Pausenzeiten einzuführen. Die Änderungen am Enztal-Gymnasium bringen also einige Herausforderungen mit sich, bieten aber auch die Möglichkeit, die Schüler (noch) besser auf die Zukunft vorzubereiten. (mm)