Am 8. Oktober 1965 erschien in der NWZ Schorndorf ein kleiner Artikel mit Bild, in dem über den Fund einer Lanzenspitze in der Kiesgrube Nagel berichtet wurde. Man war zunächst der Meinung, dass es sich um ein „Überbleibsel aus dem Mittelalter“ handelte, und maß dem Fund keine allzu große Bedeutung zu. Glücklicherweise sah Peter Heinrich, der in Unterurbach lebte und als Restaurator im Landesmuseum in Stuttgart tätig war, den Artikel und das unscheinbare Foto des Fundes und wurde aktiv. Der Kieswerkbesitzer Gottfried Nagel überließ ihm die Lanzenspitze, sodass sie zur weiteren Bearbeitung und Auswertung in das Württembergische Landesmuseum gebracht werden konnte. Dort wurde sie an Professor Peter Paulsen übergeben, der den Fund in den folgenden Wochen untersuchte. Seine Untersuchung ergab, dass es sich um die Spitze einer fränkischen (karolingischen) Flügellanze handelt, die aus der Zeit um 800, möglicherweise aus der Regierungszeit von Karl dem Großen stammt. Sie ist ein außerordentlich seltenes Artefakt und aus historischer Sicht von europäischer Bedeutung. Hervorstechendstes und auch namensgebendes Merkmal dieser Art von Lanzenspitzen sind die seitlichen Erweiterungen der Tülle, die „Flügel“.
Paulsen beschreibt die Lanzenspitze wie folgt: „Sie besteht aus der Tülle und dem Blatt. Mittels der Tülle war das Lanzenblatt auf den Lanzenschaft gesteckt und dort mit zwei Stiften, die seitlich durch kleine Löcher oberhalb des Tüllenrandes führten, befestigt. Der größte Teil des Lanzenblattes war bereits im Boden oxidiert und zerstört. Ferner ist ein Teil des einen Flügels abgebrochen. Aber dennoch lassen sich die ursprüngliche Form und Größe der Lanzenspitze im Vergleich mit anderen besser erhaltenen sehr gut und genau rekonstruieren. Die ursprüngliche Länge der Lanzenspitze betrug etwa 40 cm und die größte Breite des Blattes 4,5 cm, während die Tülle einen Durchmesser von 3,5 cm hat. Die Löcher für die Nietnägel sind 8 mm oberhalb des Tüllenrandes angebracht, und 2,5 cm hoch beginnen die Flügelansätze mit ihren Ausweitungen. Die Länge derselben beträgt 3 Zentimeter. Auf der Tülle zwischen den Flügeln ist ein Winkel als Ornament eingefurcht.“
Welche Beweise gibt es für die Richtigkeit der Bezeichnung „karolingische oder fränkische Flügellanze“? Es sind vor allem Buchmalereien in Handschriften des frühen 9. Jahrhunderts, die belegen, dass zu dieser Zeit die Flügellanzen verbreitet waren und auf welche Art sie eingesetzt wurden. Als wichtigste Quelle gilt neben dem Wessobrunner Gebet von 814 der prachtvoll gestaltete Stuttgarter Psalter, der sich in der Stuttgarter Landesbibliothek befindet. Diese in der Zeit zwischen 820 und 830 in der Abtei Saint-Germain-des-Prés nahe Paris entstandene Psalmensammlung beinhaltet zahlreiche Darstellungen von Kriegern, die mit Flügellanzen ausgestattet sind.
Daraus geht hervor, dass Flügellanzen von der Kavallerie eingesetzt wurden, um im vollen Galopp den Gegner zu treffen. Die Flügel sollten in diesem Fall das zu tiefe Eindringen der Lanze in den Körper des Gegners verhindern und somit das Herausziehen erleichtern. Die Darstellungen zeigen aber auch das Führen der Flügellanze durch Fußtruppen. Flügellanzen waren sehr wirkungsvolle Waffen, mit denen man gegnerische Stöße von Lanzen, Speeren und Schwertern parieren und ablenken und zugleich den Gegner auf Distanz halten konnte. Zudem hatten sie durchgeschärfte Klingen, die auch für schneidende und schlagende Angriffe geeignet waren.
Das berühmteste erhaltene Exemplar einer karolingischen Flügellanze ist die in der Schatzkammer der Wiener Hofburg aufbewahrte „Heilige Lanze“. Sie ist das älteste Stück der Reichskleinodien der Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und enthält der Legende nach ein Stück eines Nagels vom Kreuz Christi. Herrscher, die diese Lanze besaßen, galten im Mittelalter als unbesiegbar.
In fränkischer Zeit war die Flügellanze in allen europäischen Ländern, vorwiegend aber auf dem Kontinent vertreten und heimisch. Dies deutet auf eine Vereinheitlichung der Bewaffnung im 9. Jahrhundert unter den Karolingern hin, die einen militärisch-historischen Vorgang auch für den alemannischen Raum widerspiegelt.
Die zunächst so unscheinbar wirkende Urbacher Flügellanze von Oberurbach wirft ein Blitzlicht auf historische Vorgänge, die auch eng mit der Frage nach der Keimzelle der Gemeinde Urbach in Zusammenhang stehen. Denn der Historiker Lothar Reinhard vertritt die Auffassung, dass eine erste Besiedlung auf Urbacher Markung wahrscheinlich im Rahmen einer planmäßigen Erschließung des Remstals unter fränkischer Verwaltung etwa um 800 stattgefunden hat. Dafür sprechen auch die zahlreichen Ortsnamen im Remstal, die auf „-bach“ enden, da diese ein starkes Indiz für fränkische Gründungen sind. Ein weiteres Indiz für eine fränkische Gründung ist nach Reinhards Ansicht der Flurname „Hofacker“, der ein Hinweis auf den Standort eines fränkischen Herrenhofs sein könnte. Und weiter heißt es bei Reinhard: „Die Meier, die auf diesem Hof saßen, vielleicht schon die Vorfahren der Herren von Urbach (…) befestigten dann ihren Dorfherrensitz; sie bauten eine sogenannte Turmhügelburg. Fast in jedem Remstalort ist eine solche Turmhügelburg nachzuweisen.“ Und Reinhard stellt die Vermutung an, dass diese Kleinburg auf dem „alten Burgstall“ stand. Gemeint ist der Ort, wo heute das Urbacher Schloss steht. Die Urbacher Flügellanze ist als bedeutende Bodenurkunde ein weiteres Indiz dafür, dass die Geschichte Urbachs in der Zeit der Franken begonnen haben könnte.