80 Jahre Kriegsende in Beilstein

80 Jahre Kriegsende in Beilstein von Oliver Kämpf Am 16. April 2025 jährt sich der Luftangriff auf Beilstein sowie die darauffolgende Schlacht...
Ruine Haus Friedrich Kümmerlen an der Hauptstraße, dahinter der Wiederaufbau der Christuskirche
Ruine Haus Friedrich Kümmerlen an der Hauptstraße, dahinter der Wiederaufbau der Christuskirche

80 Jahre Kriegsende in Beilstein

von Oliver Kämpf

Am 16. April 2025 jährt sich der Luftangriff auf Beilstein sowie die darauffolgende Schlacht um Beilstein zum achtzigsten Mal. Mit dem Einrücken des 399. Infanterie-Regiments der 100. Infanterie-Division am 19. April verstummten die Waffen, und die sogenannte „Stunde Null“ markierte das Ende des Krieges sowie den Beginn eines neuen Kapitels in der Geschichte der Stadt. Diese Geschehnisse verdeutlichen, wie grausam und zerstörerisch Kriege sind. Innerhalb weniger Tage verloren über 100 Menschen ihr Leben – Verteidiger, Angreifer und Zivilisten –, und die Langhansstadt wurde Zeuge unermesslichen Leids.

Der Bericht erinnert an die letzten tragischen Kriegstage in Beilstein. Wer hätte gedacht, dass im Jahr 2025 erneut ein Krieg in Europa tobt? Und wer hätte erwartet, dass heute wieder auf höchster politischer Ebene über Kriegstauglichkeit und die Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutiert wird?

Das Gedenken an die zivilisatorischen Tiefpunkte, das menschliche Leid und die verheerende Zerstörung soll uns allen eine Mahnung sein. Vergessen bedeutet den ersten Schritt hin zu einer Wiederholung. Auf vielen Kriegsgräbern steht die eindringliche Botschaft: Den Toten zur Ehre, den Lebenden zur Mahnung, den Kommenden zur Warnung.

In diesem Sinne soll der Bericht an die Schrecken der letzten Kriegstage in Beilstein erinnern und uns zugleich zu Völkerverständigung und Besonnenheit in Konfliktsituationen mahnen.

1945 – 2025: Wie kann man sich heute mit achtzigjährigem Abstand den Geschehnissen rund ums Kriegsende nähern? Im Jahr 2014 wurde die verfügbare Primär- und Sekundärliteratur ausgewertet und Interviews mit einigen Zeitzeugen in Beilstein geführt. Der diesem Artikel zugrundeliegende Artikel erschien 2016 in den Geschichtsblättern aus dem Bottwartal: „Schicksalstage für Beilstein. Der Kampf um den Zugang zum Bottwartal“ von Oliver Kämpf im Heft 13.

Zunächst ist es wichtig, die Rahmenbedingungen der Kriegshandlungen zu betrachten. Warum erschien so viel Gewalt gegen unsere Stadt notwendig? Wer war an den Kriegshandlungen beteiligt? Welche Schäden und Opfer waren zu beklagen und wie erging es der Bevölkerung nach dem Luftschlag und Kriegsende? Das Geschehen wird anhand der Augenzeugen erfassbar.

Der Krieg kommt nach Beilstein

Mit dem Luftangriff auf Heilbronn am 4. Dezember 1944 rückte der Krieg näher. Ausgebombte und traumatisierte Menschen kamen in Beilstein unter. Viele Bewohner hatten enge Kontakte zur Bevölkerung der so schwer getroffenen Käthchenstadt.

Die alliierten Streitkräfte verfügten über die Lufthoheit und versuchten mit Angriffen auf bewegliche Ziele, wie die Bottwartalbahn und Fahrzeuge, aber auch auf Zivilisten die Abwehr zu schwächen und die Bevölkerung zu zermürben. So kam es auch zu Tieffliegerangriffen hier in Beilstein mit Todesopfern, noch bevor die Front in Reichweite war.

Mit dem Überschreiten des Rheins am 22. und 23. März bei Darmstadt rückten die amerikanischen Truppen rasch vor. Die Neckar-Enzstellung fiel im Norden. Die Soldaten wollten schnell nach Stuttgart vorrücken und den Franzosen zuvorkommen. Um dies zu erzielen, war der Durchmarsch im Bottwartal alternativlos.

Beilstein bereitet sich auf den Krieg vor

Schon ab dem 2. April wurde in den Baracken der Volksschule an der Langhansstraße ein Hauptverbandsplatz (HVPs) für verletzte Soldaten auf dem Rückzug eingerichtet. Es befanden sich verschiedene Truppenteile der Ersten Armee auf städtischem Gebiet. Weitere Einheiten befanden sich auf dem Durchmarsch.

Für die über Ilsfeld, Abstatt und Helfenberg anrückenden alliierten Soldaten schien die Lage auch wegen der schwierigen Topographie mit Hügeln und Wäldern unklar. Über die Verteidiger an den Beilstein vorgelagerten Hügeln Fohlenberg, Kübelsteige, Steinberg und Schellenrain beim Wildeck gab es wenige Erkenntnisse und massiven Widerstand der dort liegenden Truppen. Die US-Artillerie begann den Beschuss der Beilstein in der Nacht vom Samstag, den 14. auf den 15. April. Dieser währte die ganze Nacht und zwang so die Bevölkerung wieder in Kellern zu schlafen.

Die ersten durch Artillerie getroffenen Gebäude befanden sich in der Gartenstraße und dem Südrand der Stadt. Aus Beilstein heraus beschoss die Artillerie mit drei Batterien, die südlich der Stadt auf Oberstenfelder Gemarkung in Stellung gebracht waren.

Durch den Stillstand der amerikanischen Frontlinie und den Zeitdruck nach Stuttgart vorstoßen zu wollen, ergab sich aus der Sicht der Angreifer die Notwendigkeit, durch massive Gewalteinwirkung wieder in Bewegung zu kommen. So kam es, dass zur Vorbereitung des Bodenangriffs das US-Kommando entschloss, einen Fliegerangriff auf Beilstein zu befehligen.

Bomben und Brand

Am 16. April um 14.15 Uhr starteten 10 Jagdbomber Thunderbolt P-47D in auf dem Flugplatz Tantonville, Frankreich mit dem Auftrag, Beilstein zu bombardieren und zu beschießen. Ziel war es, Gebäude und Infrastruktur zu zerstören und den Widerstand zu brechen. Militärische Ziele waren keine im Auftrag benannt.

Die angreifenden Jagdflugzeuge trugen je 2 Stück 100lb (45 kg) Bomben, 2 Bündel mit je 6 Sprengbomben sowie 8 starke Maschinengewehre mit insgesamt ca. 3.360 Schuss pro Flugzeug. Sie erreichten an dem frühlingshaften Tag Beilstein um ca. 15.30 Uhr. Das Zielgebiet wurde durch 2 Rauchbomben markiert. Die Bevölkerung wurde mittels Sirenen vom Rathaus gewarnt, so dass der überwiegende Teil der Bevölkerung in private Keller, in städtischen Luftschutzkellern, Weinberghäusern, im Schloss, der Burg oder im Langhansturm in Schutz gegangen waren.

Die Flugzeuge ließen ihre Bomben in ca. 300 Meter Höhe ausklinken und über der Innenstadt explodieren. Die 2 Schwerpunktgebiete waren der Bereich zwischen Orgelgasse, Hauptstraße, Bahnhofstraße und Gartenstraße, sowie im südlichen Bereich zwischen Hauptstraße, Lammgasse, Sonnengasse und die Wunnensteinstraße. Auch der Lokschuppen am Bahnhof und abgestellte Güterwagen dienten als Ziele.

Neben dem Angriff mit den schweren Bomben wurden auch die Clusterbomben, die eigentlich gegen Soldaten und Fahrzeuge eingesetzt werden, verwendet. Mit circa 5700 Schuss aus den Maschinengewehren wurden Trümmer und Häuser in der Stadt in Brand geschossen. Augenzeugen berichteten von Phosphorgranaten, die eingesetzt wurden. Sie waren neben dem MG-Beschuss der Hauptgrund für den Ausbruch des infernalischen Brands. In den amerikanischen Akten über den Luftangriff gibt es keinen Hinweis auf Phosphor. Die Augenzeugen sind sich jedoch sicher, dass Phosphor eingesetzt wurde. Durch den Brand an vielen Stellen vergrößerten sich die Schäden und griffen auf zunächst nicht getroffene Gebäude über, die daraufhin ebenfalls abbrannten.

Der Angriff selbst dauerte nur eine Viertelstunde. Er veränderte aber das Erscheinungsbild der Stadt für alle Zeiten! Seit dem verhängnisvollen Brandschatzen von französischen Truppen am 18. Juli 1693 konnte sich die Gemeinde ohne größere Schäden entwickeln. Nun fiel mit einem Mal ca. 40 % der Bausubstanz zum Opfer.

Schäden, Opfer und Blutzoll

Auf Anordnung des Württembergischen Statistischen Landesamts wurde 1948 eine Erhebung über die letzten Kriegstage und die Anfänge der Besatzungszeit im nachmaligen Regierungsbezirk Nordwürttemberg angeordnet. Dieser Bericht zeugte über die Schäden an 57 Wohnhäusern, 68 Scheunen, 95 Schuppen und 12 sonstige Gebäude, „die durch Fliegerangriff, Bordwaffen, Artillerie- und Granatwerferbeschuss zerstört wurden“.

Weit schlimmer als alle materiellen Schäden war der Blutzoll an Menschen und der damit verbundene Schmerz. Der Volksschullehrer Ludwig Doerk verzeichnete in seinem Bericht 9 Tote und 12 Schwerverletzte. Diese Zahl muss jedoch erweitert werden um die Soldaten und zivile Opfer in und um Beilstein, die seit Jahresbeginn 1945 gezählt wurden.

In Beilstein starben seit dem Februar 1945 mindestens 14 Menschen. Bei den Kampfhandlungen zwischen der 559. Volks Grenadier-Division (VGD) und dem US-amerikanischen „399th Infantry Regiment“ um den Fohlenberg und Beilstein starben zwischen dem 17.4. und 18.4. auf deutscher Seite 81 Soldaten. Die amerikanische Seite erlitt allein beim 3ten Bataillon 399 am 18. April in 2 Stunden 17 Opfer und 101 verwundete Soldaten.

Beilstein brennt

Unmittelbar nach dem Luftschlag begann die Brandbekämpfung, die sich bis in die tiefe Nacht hinzog. Das Löschen der vielen Brände war durch Mangel gekennzeichnet. Es mangelte aufgrund des Krieges an ausgebildeten Feuerwehrleuten der Beilsteiner Wehr. Zudem war der Großbrand an den vielen Stellen selbst bei bestem Material ein so überwältigendes Ereignis, dass selbst in Friedensbesetzung nur an Schwerpunkten die Feuer zu bekämpfen gewesen wären. Die Hauptaufgabe war es, das Ausbreiten der Feuer einzudämmen. Neben den Feuerwehrmännern mangelte es auch an Löschspritzen, an Betriebsstoffen für diese, an Schläuchen und letztendlich auch an Löschwasser.

Über den Löscheinsatz gibt es einen sehr umfangreichen Augenzeugenbericht des Feuerwehrkommandanten Fritz Seeger, auf den an dieser Stelle verwiesen wird. Der Bericht ist im Heimatbuch auf Seite 163 veröffentlicht. Kommandant Seeger fertigte eine Lageplanskizze der Kriegszerstörungen an, die eindrucksvoll das Ausmaß der Schäden darstellt. Das Original wurde von Ernst Fein für das Heimatbuch der Gemeinde bearbeitet und zeigt die abgebrannten Gebäude in Schwarz.

Beilstein wird besetzt

Am Tag nach dem Luftangriff rückten die amerikanischen Bodentruppen auf Beilstein vor und verstrickten sich in opferreiche Kämpfe mit der 559. Volks-Grenadier-Division. Die amerikanische Einheit des 3ten Bataillons, des 399. Infanterie Regiments wurden durch das „824th Tank Destroyer Battalion“ unterstützt. Die verlustreichen Kämpfe gingen in die Geschichte der US-Army als der „Kampf um den Fohlenberg“ ein. Für den Einsatz verlieh Präsident Harry S. Truman dem 3 Bataillon eine besondere Auszeichnung, der sogenannten „Presidential Unit Citation „FOHLENBERG“.

Am 19. April, morgens um 8.15 Uhr erfolgte der Einmarsch des 2. Zugs der I-Kompanie 3./399 mit Unterstützung von drei M18 „Hellcat“ Panzern. Um 9.57 Uhr meldeten die US-Soldaten Beilstein als „feindfrei“. Nach und nach wurden alle Häuser durchsucht. In der ersten Nacht vom 19. auf den 20. April musste die Beilsteiner Bevölkerung größtenteils in größeren Gruppen in von Soldaten bewachten Häusern schlafen. Die GIs konnten so die restlichen Häuser der Stadt nach versteckten Soldaten durchsuchen und auch Raubgut erbeuten. Zu Vergewaltigungen, wie andernorts, kam es offenbar nicht! Schon am 20. April zogen die Soldaten weiter. Der Krieg war vorbei!

Betrachtungsweise heute

Die Sichtweise auf die Geschehnisse zwischen 1933 und 1945, im Speziellen auf den II. Weltkrieg unterliegt in „langen Wellen“ Veränderungen. So ist es auch mit der Aufarbeitung der Geschehnisse vor Ort.

Zunächst wurde von den Überlebenden gefordert, alles wieder in Stand zu setzen und Wiederaufbau zu leisten. Wie angeführt fragte im Juli 1948 das Statistische Landesamt per Erlass nach Berichten über die Geschehnisse in den letzten Kriegstagen, über Verluste und Gefallene und nach dem Geschehen während der Übergangszeit, der sogenannten „Stunde Null“. Grund dafür war, dass nach Einschätzung des Ludwigsburger Landrats Dr. Hellmuth Jaeger im Jahr 1946 über ähnliche Schäden der Vergangenheit zu wenig überliefert sei. Er schrieb, „dass man heute in vielen Fällen nicht einmal mehr weiß, ob eine Burg, eine Siedlung im Dreißigjährigen Krieg oder schon ein Jahrhundert vorher im Bauernkrieg zerstört worden ist.“

Diesen Erlassen ist es geschuldet, dass flächendeckende Schadensbefunde erhoben wurden. An der Analyse des Geschehens, der Aufarbeitung oder gar der psychologischen Begleitung der Betroffenen und Traumatisierten bestand jedoch wenig Interesse. Die Menschen mussten wieder funktionieren.

Die Westbindung zwang schon bald ein neues Feind-Freundbild auf. Die Soldaten und gefallenen Zivilisten wurden nicht mehr zu Helden erklärt, wie es noch 1918-1919 üblich war. Man erinnerte nicht mehr öffentlich und somit wurden die Toten und Opfer aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt. So wie auch die Karten der Stadt verändert wurden und bald wenig oder nichts mehr daran erinnerte, wie es war, bevor der Krieg auch über unsere Stadt hinweg zog.

Schicksale und Erlebnisse

Für den vorliegenden Bericht wurden in den Jahren 2014 und 2015 Zeitzeugen befragt. Diese sind allesamt Beilsteiner, die die Kriegstage erlebt haben. Sie waren am Kriegende 5, 12, 17 und 19 Jahre alt. Sie erlebten die einschneidenden Tage aus unterschiedlichen Perspektiven und haben dementsprechend sehr individuelle Erfahrungen gemacht, die ihre Erinnerungen prägen.

Die erste Zeitzeugin ist Ilse Wiedenmann. Die damals 19-Jährige war beim Angriff auf die Stadt als älteste Tochter des Landwirts und Weingärtners Paul Fleischmann. Zwei Jahre jünger war Hilde Bauer, die damals noch Linder mit Nachnamen hieß. Sie war die Tochter des Landwirts Wilhelm Linder und im heimischen Betrieb tätig. Beide junge Damen eint ein Schicksal: Am Tag nach dem Angriff auf Beilstein hatten sie kein Elternhaus mehr. Das Fleischmannsche Anwesen am Eingang der Kelterstraße und der Hof der Familie Linder an der Kreuzung Bahnhof-, Gartenstraße waren durch die Bomben getroffen und völlig ausgebrannt. Auch das Elternhaus der jüngsten Zeitzeugin, der damals erst 5 Jahre alten Brigitte Kerst, Tochter des Willi Betz, wurde getroffen und ist abgebrannt.

Die vierte im Bunde ist die damals zwölfjährige Erna Machowetz, geborene Barthruff. Sie wohnte in der Schmidhäuser Straße 8. Das Haus ihrer Familie entging dem Inferno.


Zeitzeugen

Die damalige Schülerin Erna erinnerte sich gut an die Zeit, als der Krieg nach Beilstein kam. Besonders eingeprägt hat sich der Tag, an dem ihre gute Freundin Irma ihre Mutter und den kleinen Bruder verlor. Am 28. Februar 1945 war Erna mit ihren Freundinnen nach der Schule noch etwas bei der Schiedstaffel „schwänzen“. Sie sahen immer wieder Tiefflieger, die um die Stadt kreisten. Die Mädchen waren beunruhigt, denn sie wussten, dass eine Mutter der Mädchen auf den Äckern nördlich der Stadt bei der Feldarbeit war. Als sie mit ihrer Freundin Irma nachhause ging, erfuhren sie, dass Irmas Mutter, Marie Behr und ihr vierjähriger Sohn Adolf bei einem Fliegerangriff auf einen Traktor auf offener Strecke ums Leben kamen. Die Angriffe auf Zivilisten und die damit verbundene Angst war weit verbreitet. Auch Ilse Wiedenmann berichtet von Erlebnissen, bei denen sie schon vorzeitig Steckkartoffeln ausgebracht hatten, damit die einrückenden Truppen die Saat nicht rauben konnten. So musste auch sie sich auf den Acker in die Furchen drücken, damit die Tiefflieger sie nicht beschießen und treffen konnten.

Wenige Tage nach Erna Machowetz zwölften Geburtstag am Ostersonntag, den 2. April, wurde in die anliegende Scheune ihres Elternhauses eine Wehrmachts-Feldküche einquartiert. Den Angriff auf die Stadt am 16. April hat sie im Keller in der Schmidhäuser Straße erlebt. Auch ihr Elternhaus hatte kleine Schäden durch Splitter oder Munition abbekommen. Nach dem Luftschlag erinnerte sie sich, dass sie sich nicht getraut hat, in Richtung brennende Ruinen zu laufen. Von der Gegend bei der Stadtscheuer und dem ehemaligen Haus Ehmer (Hauptstraße 49) sah sie, wie beim Brand an den Häusern der Sonnengasse kleine Flammen über die ganzen Fassaden liefen. Viele Häuser zwischen Gasthaus Sonne bis zum Lamm und runter zur Gartenstraße brannten an dem Tag ab. Als die Amerikaner nach Beilstein einrückten, musste die Familie ihr Haus für eine Nacht verlassen und bei Nachbarn unterkommen. Unter den Soldaten waren auch farbige. Erna erinnert sich daran, wie sie zum ersten Mal einen „schwarzen Menschen“ sah.

In der Zeit nach dem Angriff ruhte das normale Leben. Erst Monate später fand wieder Unterricht statt. In den Baracken der Schule an der Langhansstraße, dem ehemaligen Hauptverbandplatz wurde sie noch an die schrecklichen Ereignisse erinnert. Auf dem Boden waren noch immer die getrockneten Blutlachen der Soldaten zu erkennen. Für einen so jungen Menschen müssen die Geschehnisse traumatisch gewesen sein. Die Ruinen übten keine Anziehungskraft aus. „Nur einmal bin ich als Abkürzung über die Ruinen gelaufen“.

Hilde Bauer war als Tochter des Landwirts, Wengerters und Holzrückers Wilhelm Linder siebzehn Jahre alt, als das Unheil über Beilstein kam. Ihr Vater war zusammen mit anderen schon Tage zuvor damit beschäftigt, in der Langhansstraße einen Luftschutzkeller zu errichten. Als die Sirenen heulten, ging die Familie in den benachbarten Gewölbekeller der Familie Glöckler/Steidinger in der Bahnhofstraße 4, da sie selbst keinen sicheren Keller hatten.

Wilhelm Linder war als Feuerwehrmann schon unmittelbar nach dem Angriff wieder auf der Straße, um die Brände zu bekämpfen. Aber auch er musste mit ansehen, dass sein eigenes Haus komplett abbrannte. Als ungewollter Brandbeschleuniger dienten die Schnapskolben, die die Familie unter dem Dach aufbewahrt hatte. Als diese platzten, ergoss sich der hochprozentige Alkohol über das Haus und fachte das Feuer noch mehr an. Hier wütete ein heftiges Feuer. Noch Jahre später waren die Ruinen an der Kreuzung Hauptstraße-Bahnhofstraße-Gartenstraße prägend.

An dieser Stelle brannten das Eisenwarengeschäft und Schlosserei Möll/ Betz, die Schreinerei Scheer und zur Gartenstraße hin der Hof der Familie Linder ab. Linders kamen notdürftig im St. Annagarten bei Verwandten unter. Sie erbauten später ihren neuen Bauernhof in der Schulstraße, wo er noch immer steht (Familie Claus, bzw. Senghaas).

Ähnlich schwer getroffen wurde die Familie des Paul Fleischmann, der selbst während des Krieges nicht in Beilstein war und seine 2 Töchter und Ehefrau mit dem landwirtschaftlichen Hof alleine lassen musste. Seine älteste Tochter Ilse, später Wiedenmann, war in der Pflicht, den Betrieb zusammen mit ihrer Schwester und Mutter zu führen. Durch die Kriegszeiten war Ilse als Hilfsschwester ausgebildet und damit am Hauptverbandsplatz eingesetzt. Am Tag, als der Bombenangriff erfolgte, sah sie, wie eine Zielmarkierung an ihrem Nachbarhaus Sauer (jetzt Volksbank) einschlug und entschloss sich zusammen mit ihren Freundinnen den Brand zu bekämpfen. Sie hatten auch eine Ausbildung als Feuerwehrgehilfen erhalten und schritten zur Tat. Sie rannten die Kelterstraße runter und holten die ersten 20 Meter Schläuche. Bevor sie aber diese anschließen konnten, setzte der Bombenhagel ein und sie mussten das Löschen abbrechen. Im sicheren Schutz des Kellers der Freundin erlebten sie den Beschuss. Nach dem Brand stellte sie fest: „Es war nichts mehr da. Die Möbel, Dokumente, Bilder, Aussteuer, Werkzeug, Geräte, Wägen, Butten und die Viecher: alles war vernichtet, nichts war heil und am Leben geblieben.“

Gefragt danach, wie sie die Stimmung in den Tagen nach dem Angriff beschreiben würde, sagt sie: „Alles war in Agonie. Es war ein leidvoller, qualvoller und auswegloser Zustand, in dem sich die getroffenen Familien befanden. Alles war in Schutt und Asche.“

Wie andere Landwirte bekamen die Fleischmanns als Nachbarschaftshilfe aus den umliegenden Gemeinden Werkzeugspenden. Jedoch: „Man kann sich denken, dass die Leute nicht ihre besten Wengertscherle hergegeben haben“, so Ilse Wiedenmann. Auch Fleischmanns gaben ihren angestammten Platz an der Kelterstraße auf und gründeten mit dem Neubau in den St. Annagärten ihren Weinbaubetrieb.

Wie sich die schrecklichen Ereignisse einem 5-jährigen Mädchen einprägen können, schildert Brigitte Kerst, die als Tochter des Willi Betz in dem Haus Möll/ Betz direkt an der Hauptstraße wohnte und rege Erinnerungen an die schrecklichen Umstände hat. Zusammen mit Mutter, Tanten, Vetterle und Bäsle waren sie im Keller der Eisenwarenhandlung Möll, als es hieß, sie müssen das Haus verlassen, da es über ihnen schon lichterloh brannte. Vorn an der Straße brannte schon alles, so musste die Flucht aus dem Haus über den Stadtgrabenweg erfolgen. Alle zusammen verließen die Stadt in Richtung Ruhl, wo sie die ganze Nacht im „Reitergässle“, einer kleinen Geländeeinkerbung unterhalb des Wartbergs am Rande der Stadt Schutz suchten. Das Haus der Familie brannte komplett aus, so musste das Mädchen mit ihrer Mutter in den kommenden Nächten in unterschiedlichen Kellern schlafen. Als die Amerikaner in Beilstein einzogen, fanden sie Unterschlupf im Haus Sturm in der Bahnhofstraße 15/1. In dem Haus versteckte sich zeitgleich ein Volkssturmmann in einem Weinfass des Kellers, während auf der Straße US-Soldaten Patrouille liefen. Durch die Nächte in Kellern und das Eingesperrtsein entwickelte sich eine dauerhafte Angst vor geschlossenen Türen. Auch die Toten, die sie sowohl am 28. Februar wie auch am 16. April sah, haben sich tief in das Gedächtnis eingeprägt. Die Familie Betz errichtete an Stelle das alte Wohn- und Geschäftshaus an der Hauptstraße 4 eine Schlosserei mit BP-Tankstelle und später dann ein Autohaus.

Umgang mit dem Geschehenen

Für die wenigen Überlebenden sind die Geschehnisse im Februar 2025 traumatisierend – die Nachgeborenen haben die Stadt nie anders erlebt, als sie sich nach 1945 entwickelte.

Auch heute, achtzig Jahre später, lohnt es sich, die Spuren der Vergangenheit an Gebäuden, Plätzen und in Biografien zu suchen. Diese Spuren gleichen Puzzlestücken, die zusammen mit den Aspekten des Hier und Jetzt ein Gesamtbild ergeben.

Die Geschehnisse vor 80 Jahren und deren Auslöser sollen uns ein ehrendes Gedenken sein, das uns mahnt, zivilisiert, tolerant und friedvoll miteinander zu leben!

Auf dem Beilsteiner Friedhof wurde vor der Aussegnungshalle durch die Stadt eine Gedenktafel angebracht. Diese erinnert an alle 180 Menschen aus Beilstein, die durch den Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen sind. Die Inschrift lautet:

WIR RUFEN UND MAHNEN DIE WELT 1939 – 1945

Erscheinung
Beilsteiner Mitteilungen – Amtsblatt der Stadt Beilstein
NUSSBAUM+
Ausgabe 15/2025
von Stadt Beilstein
11.04.2025
Dieser Inhalt wurde von Nussbaum Medien weder erfasst noch geprüft. Bei Beschwerden oder Anmerkungen wenden Sie sich bitte an den zuvor genannten Erfasser.

Orte

Beilstein
Meine Heimat
Entdecken
Themen
Kiosk
Mein Konto