Ältester Einwohner von Kraichtal

Friedrich Maier aus Oberöwisheim feierte am 9. September seinen 104. Geburtstag / Die Familie der „Wolgadeutschen“ kam 1992 nach Kraichtal / Kraichtals...
Titelbild: Kraichtals Bürgermeister Tobias Borho mit dem ältesten Einwohner der Stadt.
Titelbild: Kraichtals Bürgermeister Tobias Borho mit dem ältesten Einwohner der Stadt.Foto: of

Friedrich Maier aus Oberöwisheim feierte am 9. September seinen 104. Geburtstag / Die Familie der „Wolgadeutschen“ kam 1992 nach Kraichtal / Kraichtals Bürgermeister Tobias Borho gratulierte mit Blumenstrauß und Präsent

Mit 104 Jahren der älteste Einwohner in Kraichtal

Kraichtal … von Hans-Joachim Of

Im beachtlichen Alter von 104 Jahren konnte Friedrich Maier, der im Kraichtaler Stadtteil Oberöwisheim bei seinem Sohn lebt, kürzlich den 104. Geburtstag feiern. „Er kommt regelmäßig zur Tagespflege in das Seniorenhaus nach Münzesheim“, so Pflegedienstleiterin Natalie Lamberth. Der alte Herr, der zwei Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs geboren wurde, hat zwar ein wenig Probleme mit den Ohren, doch kann er alleine am Stock gehen und freut sich des Lebens. Neben der Heimleitung und allen Bewohnern der Agaplesion Diakoniestation gratulierte auch Kraichtals Bürgermeister Tobias Borho, der von seiner Mitarbeiterin Anabell Krauß begleitet wurde, ganz herzlich und überbrachte neben Blumenstrauß und Urkunde auch eine Kraichtaltasse als Präsent. Friedrich Maier wurde am 9. September 1920 in der deutschen Siedlung Gnadentau (heute Dorf Werchni Jeruslan/Gebiet Wolgagrad), die im Jahre 1860 als eine deutsche „Tochterkolonie“ gegründet wurde, geboren und ist ein sogenannter Russland- oder Wolgadeutscher. Die nächstgrößere Stadt von Gandentau entfernt heißt Saratow an der Wolga, hat heute rund 850.000 Einwohner und liegt rund 200 Kilometer von der Grenze zu Kasachstan entfernt. „Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen war das Dorf Gnadentau bis 1941 Verwaltungszentrum des gleichnamigen Dorfsowjets und gehörte zum Bezirk Rayon Torgun“, erzählt Sohn Waleri am Telefon. Er ist einer von insgesamt drei Söhnen mit den weiteren Namen Victor und Alexander, die alle noch leben und natürlich längst im Rentenalter sind. Friedrich Maiers Ehefrau Selma war 1993 mit 67 Jahren verstorben. Erst ein Jahr zuvor waren die Maiers nach Deutschland in ein Auffanglager gekommen und danach nach Kraichtal übergesiedelt. „Mein Vater hatte Agrarwissenschaft studiert und sorgte später als Gemüsebauer und Viehzüchter für das Einkommen der Familie“, berichtet Wasili. In Kraichtal war er bis zu seiner Pensionierung beim Städtischen Bauhof beschäftigt. Friedrich Maier, der zu Hause natürlich Deutsch sprach, hat im Laufe der Jahre seine Muttersprache fast verlernt und spricht heute mehr Russisch als Deutsch, Dazu muss man wissen, dass in der Sowjetunion die Russlanddeutschen trotz des durch Deportation und Verbannung erlittenen Verlusts der deutschen Sprache über ihre Namen und aufgrund des Nationalitätenvermerks im Inlandspass als Deutsche identifizierbar sind. Wie er den Tag verbringt? Im Fernsehen schaut er die russischen Nachrichten, guckt sich ein Fußballspiel an, oder hört Volkslieder im Radio. Tobias Borho bei der Verabschiedung: „Alles Gute – bis zum nächsten Jahr!“

Die deutsche Siedlung Gnadentau

wurde 1860 als eine „Tochterkolonie“ gegründet. 1910 lebten in Gnadentau 2.235 Personen. Es gab 207 Hofstellen, eine Öl- sowie drei in Betrieb befindliche Windmühlen. Die evangelische Kirche in Gnadentau wurde 1898 errichtet. Die elegante Turmspitze mit den dreieckigen Dachfenstern, das im Himmel schwebende Kreuz sowie der ornamentgeschmückte rechteckige Glockenturm mit den in allen Himmelsrichtungen zugewendeten paarigen Bogenfenstern, die zierlichen Kreuze auf den Türmchen und viele weitere charakteristische Details deklarierten diese Kirche zu einer der schönsten im gesamten Wolgagebiet. Die Kirche bot Platz für mehr als 1000 Personen. Auf dem Hauptplatz standen neben der Kirche das Pastorat, das Bethaus, eine Schule und ein Glockenturm aus Holz. Die Kirche in Gnadentau wurde als letzte der lutherischen Kirchen an der Wolga geschlossen. Offiziell war sie seit dem 21. Dezember 1938 nicht mehr zugänglich, obwohl Gottesdienste in ihr schon viel früher nicht mehr stattfanden. Im September 1941 wurden die Deutschen aus Gnadentau deportiert. Seit 1942 trägt das Dorf den Namen Werchni Jeruslan. Heute wohnen im ehemaligen Gnadentau etwa 600 Personen. Die heutige evangelische Gemeinde begann damit, dem Gotteshaus seinen ursprünglichen Zweck wiederzugeben und half der alten Kirche aus den Ruinen aufzuerstehen. Ungeachtet des Fehlens vieler architektonischer Details, welche die Kirche vor der Revolution besaß, versetzt sie auch heute noch jeden, der sie besucht, in Erstaunen. Der Wiederaufbau der Kirche ist bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Gottesdienste werden lediglich außerhalb der Wintermonate abgehalten. Nichtsdestotrotz zieht die grüne Turmspitze, die hervorragend von der Trasse von Saratow nach Wolgograd aus zu sehen ist, alle Blicke uneingeschränkt auf sich. Die hier (ver)weilenden Reisenden verharren vor dem Gotteshaus, verzaubert von seiner Pracht und entzückt von seiner unbeschreiblichen Schönheit.

Die Wolgadeutschen

Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen war das Dorf Gnadentau bis 1941 Verwaltungszentrum des gleichnamigen Dorfsowjets. Ursprünglich gehörte Gnadentau zum Rayon Torgun (Bezirk Rownoje), nach der im Jahr 1921 erfolgten Auflösung der Bezirke zunächst zum Rayon Rownoje und von 1922 bis zur im Jahr 1941 erfolgten Auflösung der ASSR der Wolgadeutschen zum neu eingerichteten Kanton Staraja Poltawka. Nach der Deportation der Deutschen und der Abschaffung der Kantone fiel Gnadentau als Teil des Rayons Staraja Poltawka an das Gebiet Wolgagrad und wurde in Werchni Jeruslan umbenannt. Die Kolonie wurde 1860 als Tochterkolonie gegründet. Ihre Gründer waren Kolonisten. Der deutsche Name der Kolonie geht wörtlich auf die beiden Wortbestandteile „Gnade“ und „Tau“ zurück. Von der Übersetzung des deutschen Wortes „Tau“ („rossa“) leitet sich auch der russische Name der Kolonie Rosnoje ab. 1888 gab es im Dorf 172 Haushalte und 140 Wohnhäuser (80 Holz- und 60 Lehmziegelhäuser). 52 Bewohner von Gnadentau waren im örtlichen Gewerbe tätig und arbeiteten in den elf im Dorf ansässigen Handels- und Gewerbebetrieben (u. a. eine Sarpinka-Weberei, eine Färberei und eine Mühle). Im Dorf gab es eine Schenke. Die Bewohner von Gnadentau waren vor allem im Ackerbau tätig und auf den Anbau von Weizen spezialisiert, der auf einer etwa vier Mal so großen Fläche wie Roggen angebaut wurde. Jahre mit guten Ernteerträgen wechselten mit Jahren der Missernte. Große Bedeutung für die Entwicklung der Landwirtschaft hatten die natürlich-klimatischen Gegebenheiten. In der Umgebung der Siedlung gab es vor allem salzige Lehm- und Sandböden, was die Vegetation einschränkte. Die Bewirtschaftung des Landes erfolgte nach dem Gemeinschaftsprinzip. Viele Kolonisten zogen es vor, nicht nur eine, sondern zwei bis drei (64 der insgesamt 172 Landwirte), oder sogar vier und mehr (83) Parzellen zu bewirtschaften. Angesichts der großen Bedeutung der Landwirtschaft waren die Siedler bemüht, Inventar und Anbaumethoden zu modernisieren. 1888 gab es im Dorf 78 Eisenpflüge, 49 Windsichten und drei Erntemaschinen. 65 Landwirte verfügten über modernes landwirtschaftliches Gerät, das sie selbst produzierten oder aus anderen deutschen Siedlungen bezogen. Die anderen Landwirte nutzten einfache, in Heimarbeit hergestellte Gerätschaften. 1908 gab es in Gnadentau fünf mit Pferden betriebene Dreschmaschinen, 150 sogenannte „Schnitter“ (einfache bei der Getreideernte eingesetzte Mähmaschinen, deren Nutzung erheblichen Kraftaufwand erforderte, da nur die Stängel abgeschnitten wurden und der Bauer das Getreide mit der Forke von der Plattform schaufeln musste, wobei etwa 20-30 % des Getreides verloren gingen). Während das landwirtschaftliche Gerät in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem von Pferden gezogen wurde, kamen Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend Kamele zum Einsatz. 1888 verfügten die in Gnadentau ansässigen Siedler über 625 Arbeitspferde, 327 Ochsen, 410 Kühe, 1.269 Schafe, 148 Ziegen und 426 Schweine. 1908 hatten die Dorfbewohner 716 Pferde, 495 Ochsen und 80 Kamele. 1907 wurde im Dorf eine Verbrauchergesellschaft gegründet. Nach Stand zum Jahr 1908 gab es im Dorf 186 Höfe. 1910 war deren Zahl auf 207 gestiegen. Im Ort gab es eine Ölmühle und drei Windmühlen. 1906 wurde eine Verbrauchergesellschaft gegründet, der im Jahr 1910 68 Personen angehörten. In den 1920er Jahren gab es in Gnadentau einen Klub, einen Genossenschaftsladen, eine landwirtschaftliche Kreditgenossenschaft, eine Fleisch- und Käse-Kolchose sowie die Kolchose „S. Ordschonikidse“. 1928 wurde am Fluss Jeruslan ein Staudamm errichtet. Im September 1941 wurden die Deutschen aus dem Dorf deportiert, das seit 1942 den Namen Werchni Jeruslan trägt. Mit der Etablierung der Sowjetmacht wurden im Land zahlreiche Maßnahmen eingeleitet, die den Einfluss der Kirche auf Staat und Gesellschaft beseitigen und in letzter Konsequenz der Tätigkeit aller Konfessionen ein Ende setzen sollten.

Text/Foto: Hans-Joachim Of (Quelle, Teil 2: www.russlanddeutsche.de)












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von Redaktion Nussbaum
18.09.2024

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