In dieser Woche beschäftigt sich die Kirche mit dem Thema „Israel“. Ich stelle mir heute mit Ihnen die Frage: Was verbindet die Kirche mit Israel? Damals schloss Gott einen Bund mit seinem Volk. Durch Jesus schloss er einen neuen Bund mit seinem Volk, aber auch mit den Menschen (Heiden) aus der ganzen Welt. In der Apostelgeschichte wird deutlich, dass nicht nur die Juden Anteil an diesem Bund haben, sondern alle Menschen die Möglichkeit haben, zum Glauben an Gott zu kommen, sich taufen lassen und das Abendmahl feiern können. Jesus deutete darauf kurz vor seiner Fahrt in den Himmel hin: „… aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde“ (Apg. 1,8). Jesus trägt seinen Jüngern auf, die gute Botschaft in die ganze Welt zu bringen.
In Römer 11 spricht Paulus von den Heiden und greift das Bild von dem Ölzweig auf, der in den Ölbaum eingepfropft wird. Der Ölbaum ist das Volk Gottes, doch der Ölzweig, der eingepfropft ist, sind die Heiden, die zum Glauben an Gott kommen. Sie sollen sich nicht über Israel erheben, denn es bleibt das von Gott auserwählte Volk. Mit den Wurzeln des Ölbaums sind die Urväter Israels gemeint, z. B. Abraham. Durch ihn und seine Nachkommen entstand das jüdische Volk. Für uns Christen ist Abraham auch der Urvater des Christentums, denn die ersten Christen waren Jüdinnen und Juden, auch wenn sie sich damals noch nicht als Christen bezeichneten.
In alledem verbindet uns die Bibel bzw. das Alte Testament mit Israel. Es ist der Grundstein der Geschichte des Volkes und für uns die Grundlage für das Neue Testament. Für Jüdinnen und Juden ist das Alte Testament wesentlich, denn sie glauben in der Regel nicht, dass Jesus der Messias ist. Ihrer Meinung nach wird der Messias erst noch kommen. Es gibt allerdings immer mehr messianische Juden, d. h. jüdische Menschen, die zum Glauben an Jesus Christus kommen und das Neue Testament für sich annehmen.
Rückblick
Die Kirche verbindet auch eine gemeinsame Geschichte mit den jüdischen Menschen. Wir erinnern uns an die Kreuzzüge, in denen Christen ausgezogen sind, um Israel bzw. Jerusalem zu erobern, das von Muslimen belagert war. Deutsche Bürgerinnen und Bürger und zahlreiche Menschen aus verschiedenen Ländern, die nicht ausgebildete Kämpfer oder Überlebenskünstler waren, machten sich auf die lange Reise nach Jerusalem und kämpften dort. Viele kamen bereits auf dem Weg um, weil sie nicht genug Nahrung hatten, ausgeraubt oder getötet wurden. Und das alles unter dem Motto: „Ziehet aus und der Herr wird mit euch sein!“ Die Menschen wurden von der Kirche zu einem Kreuzzug animiert, indem ihnen versprochen wurde, dass ihre Sünden durch die Kirche erlassen werden (Hinweis auf den Ablasshandel). Israel war den Christen heilig und sie bezeichneten es als die „Wiege ihres Heils“. Jerusalem war ihre Pilgerstätte.
Ein weiterer Teil der Geschichte verbindet die Kirche mit Israel: den Holocaust bzw. die Schoah. Was dort passiert ist, kennen die meisten. Dies wurde in vielen Geschichtsbüchern, Biografien und Studien festgehalten. Museen in Berlin und anderen Teilen der Welt erzählen die Geschichte: Ein Mann namens Adolf Hitler regierte das Deutsche Reich und wollte ein tausendjähriges Reich errichten. Er ließ Juden, Menschen mit Behinderungen, Sinti und Roma und weitere Menschen auf grausamste Art leiden und ermorden, weil sie nicht zur arischen Rasse gehörten, als Feinde galten oder sich gegen sein Regime wehrten. Deutschland war hauptsächlich daran beteiligt und bis heute haftet dieses Ereignis den Deutschen an. Nicht nur auf politischer Ebene wird daran gedacht, z. B. am Tag der Befreiung aus den Konzentrationslagern, sondern es zieht sich durch unsere Gesellschaft, z. B. in Form von ideologischem Denken gegenüber bestimmten Religionen, Herkünften aus anderen Ländern und der Hautfarbe, und hat Auswirkungen im sozialen Bereich. Als ich mit 18 zwei Jahre in England verbrachte, traf ich auf ein Mädchen im jugendlichen Alter, die mit mir nichts zu tun haben wollte, weil ich Deutsche bin. Sie beschuldigte mich so zu sagen, dass ich aus dem Land komme, in dem Hitler regierte und machte mich damit für den Tod von 6 Millionen Juden verantwortlich. Auch andere englische Leute, darunter Christen, waren mir skeptisch gegenüber aufgrund meiner Herkunft. Ich bin dankbar dafür, dass sich diese Vorurteile mit der Zeit gelegt haben, als wir begannen Freunde zu werden. Ihr Bild über Deutsche veränderte sich dadurch.
Wir wissen, dass auch Christen, wie Dietrich Bonhoeffer, unter Hitlers Grausamkeit leiden mussten. Einige Deutsche wussten nicht, was im Verborgenen passierte. Und diejenigen, die es wussten, halfen entweder und versteckten Juden bei sich, oder verschlossen die Augen und ließen alles so weiterlaufen. Über die Jahre gab es Schuldbekenntnisse und Versöhnungsgespräche zwischen Christen und Juden. Die politische Beziehung zwischen Deutschland und Israel entwickelte sich immer mehr ins Positive. Mittlerweile scheint es normal zu sein, dass deutsche Touristen nach Israel reisen, um sich das Land, die historischen und biblischen Stätten anzuschauen. Wer dort war, kann sich zumindest ein bisschen vorstellen, wie es zu biblischen Zeiten gewesen sein muss. Es gibt auch deutsche Student*innen, die in Jerusalem oder TelAviv studieren. Israel ist modern geworden, hat aber auch seinen archäologischen und historischen Charme.
Ausblick: Praktisches Gemeindeleben damals und heute
Was können wir nun aus dem Gehörten für uns als Kirchgänger oder Christen mitnehmen? Wie sind Kirche und Israel miteinander verbunden? Der Ursprung Israels ist der Ursprung des Christentums. Die Ursprungsgeschichte Israels lesen wir im Alten Testament und dies ist Voraussetzung für das Verstehen und Deuten des Neuen Testaments. Jesus erfand nicht einfach neue Inhalte, sondern er legte sich das Alte Testament zugrunde und lehrte es seinen Jüngern und Nachfolgern mit seiner Sicht auf die Dinge. Daraus entstanden die Taufe und das Abendmahl, die für uns in der evangelischen Kirche grundlegende symbolische Handlungen darstellen.
Im Neuen Testament ist die Apostelgeschichte verankert, die Geschichte der ersten Christen. Hier sehen wir Beispiele, wie sie die Gemeinschaft miteinander und die Beziehung zu Gott lebten: sie aßen gemeinsam, feierten das Abendmahl, trafen sich in ihren Häusern, teilten sich ihr Hab und Gut, achteten auf die Menschen, die Not litten und gaben ihnen, was sie brauchten, sie beteten gemeinsam, feierten und lobten Gott. Auch wir feiern heute Gott gemeinsam in Gottesdiensten, beim Abendmahl, essen gemeinsam, spenden Geld oder geben anderen materielle Dinge, manche treffen sich in Häusern zur Bibellese, zum Singen oder Gebet.
Es ist interessant, sich mit der Apostelgeschichte und den Briefen des Paulus zu beschäftigen. Dadurch erfahren wir näher, wie Jesus sich Gemeinschaft unter Gläubigen vorgestellt hat und wie die ersten Gemeinden entstanden sind. Es sind Beispiele, denen wir folgen dürfen und vielleicht sogar sollen. Auch die Berufung der Christen, Gabenprofile, Ordnungen in den Gemeinden sind darin enthalten. Man könnte auch sagen, dass die jüdische Bevölkerung zur Zeit der Bibel bzw. die ersten Christen ein Vorbild für uns Christen heute sein kann.
Doch noch konkreter: Wie soll Kirche heute mit Israel verbunden werden? Zum einen ist es das Gebet. Viele Christen beten für Israel und es gibt besondere Veranstaltungen, an denen gezielt für Israel gebetet wird. Zum anderen ist es wichtig, sich mit der Geschichte und dem Judentum zu beschäftigen. Nicht jeder hat die Möglichkeit, nach Israel zu reisen oder die hebräische Sprache zu lernen, aber man kann sich z. B. mit jüdischer Literatur oder Literatur über das Judentum beschäftigen. Ein Besuch in einem jüdischen Museum oder sogar einer Synagoge helfen uns, die jüdische Kultur und ihren Glauben besser zu verstehen. Von der Erwachsenenbildung aus oder anderen Veranstaltern kann man sich Vorträge zu jüdischen Themen anhören und daran teilnehmen. Besonders in Großstädten gibt es oft die Möglichkeiten, in einem Begegnungszentrum mit jüdisch-gläubigen Menschen ins Gespräch zu kommen. Es gibt Angebote wie den „interreligiösen Dialog“ in verschiedenen Formen, z. B. als Podiumsdiskussion.
Ich persönlich konnte mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Schoah als Teenager nicht viel anfangen, obwohl ich durch meine Großeltern einiges darüber hörte oder auch in der Schule lernte. Es war für mich langweilig und trockene Theorie, bis ich mit 16 Jahren das erste Mal ein Konzentrationslager besuchte. Das öffnete mir die Augen und ließ mich mehr verstehen. Sogar wurde eine Tür in meinem Herzen geöffnet für diesen Teil der deutschen Geschichte. Im Rahmen meines Studiums der Religionspädagogik und Gemeindediakonie in Freiburg nahm ich an einer Zusatzqualifikation für Menschenrechtspädagogik teil. Vor allem sprachen wir darüber, wie Ideologie entstehen kann, wie mit Hitlers Ideologie umgegangen wurde, welche Auswirkungen dies auf Juden und andere Menschen hatte und inwiefern das Thema heute noch relevant ist und behandelt werden kann, z. B. im Rahmen des Religionsunterrichts. Meine Bachelor-Arbeit sollte ich über ein Thema schreiben, was wir behandelt hatten, um mein Zertifikat zu bekommen. Ich stellte mir die Frage: Wie verarbeitet ein Jude den Holocaust? Mit dieser Frage beschäftigte ich mich Monate lang und schrieb darüber. Es war einerseits spannend, sich mit dem Thema zu beschäftigen und andererseits war es sehr schwermütig. Ich schrieb über Elie Wiesel, der als Jugendlicher in Auschwitz war und seine Familie dort verlor. Er überlebte und schwieg zunächst über das Thema. Dann fing er an, darüber zu schreiben und auch darüber zu sprechen und ging mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit. Das Thema beschäftigt mich bis heute und berührt mich immer wieder.
Ich möchte Ihnen ein paar Fragen mit auf den Weg geben:
Überlegen Sie sich vielleicht einen Satz, eine Aussage, die Sie mitnehmen, z. B. Mir ist wichtig geworden, mich mit der Geschichte der Juden näher auseinanderzusetzen oder Ich nehme mit, dass die ersten Christen Juden waren und die ersten Gemeinden ein Beispiel für geistliche Gemeinschaft in den Kirchen heute sind.
Vielleicht möchten Sie darüber nachdenken und sich mit Ihren bisherigen politischen, historischen oder religiösen Einstellungen Israels gegenüber auseinandersetzen.
Vielleicht liegt es Ihnen am Herzen, für Israel zu beten oder praktische Schritte auf Jüdinnen und Juden zuzugehen, z. B. eine Synagoge besuchen, ins Gespräch mit ihnen zu kommen oder sich Vorträge zu Themen über Israel anzuhören.
Ich verbleibe mit Gottes Segen
Anne Keller
Gemeindediakonin