Aufgelesen. Karin Bruder: Weiße Jahre

„Aufstehen, arbeiten, essen (vielleicht), schlafen (vielleicht)“ Valparaíso in Chile, 30. Dezember 2007. Elena soll sich erinnern. „Omi, das kann...
Vor einem Bauernhaus in der Ukraine hängen Eimer an einem Holzzaun zum Trocknen.
Vor einem Bauernhaus in der Ukraine hängen Eimer an einem Holzzaun zum Trocknen.Foto: privat, Seite 11

„Aufstehen, arbeiten, essen (vielleicht), schlafen (vielleicht)“

Valparaíso in Chile, 30. Dezember 2007. Elena soll sich erinnern. „Omi, das kann nicht so schwer sein“, sagt ihr Enkelsohn Simon gleich zu Beginn des Romans „Weiße Jahre“ von Karin Bruder. Ist es wirklich nicht schwer?

Immerhin ist Elena inzwischen weit über 80 Jahre alt, und das, an das sie sich erinnern soll, liegt bis zu 70 Jahre zurück. Es beginnt im April 1937 in Budra und Czernowitz, damals in Rumänien, heute in der Ukraine gelegen.

Billige Arbeitskraft

Da nämlich wird die kleine Elena vom Vater, einem verwitweten Bauern mit vier Kindern, „als billige Arbeitskraft verkauft“. Gegen ihren Willen muss sie vom Hof in die Stadt „in Stellung“. Sie muss in einem jüdischen Haushalt als Kindermädchen von Ava, der Tochter des Hauses, arbeiten. Kurz darauf verlässt erst die Mutter, dann auch der Vater die Familie und das Land. Ava bleibt in Elenas Obhut zurück. Den beiden gelingt es nicht, vor den Nazis zu fliehen. Ava versteckt sich in Budra, das dann russisch wird. 1941 werden die Dorfbewohner*innen nach Sibirien deportiert.

Ava und ihr Wesen

Bis dahin hat uns Karin Bruder auf rund 200 Seiten, also der Hälfte des Buches, an Elenas Leben in Budra und Czernowitz teilhaben lassen. Wir kennen sie und Ava nun, ihren Mut, ihre Klugheit, ihre Verletzlichkeit, ihre Sehnsucht und ihre Stärke. Wir erleben ihre Fassungslosigkeit, mit der sie die Vernichtung der jüdischen Menschen durch die Nazis zur Kenntnis nehmen und mit der sie in Waggons gen Osten transportiert werden.

Die Anvertrauten retten

Dort, wo sie ankommen, gibt es so gut wie nichts, und schon gar nicht für sie. Die verschleppten Familien bauen sich Häuser aus Baumstämmen, entwickeln Überlebensstrategien und frieren sich durch die „Weißen Jahre“. Hier liest man: „Aufstehen, arbeiten, essen (vielleicht), schlafen (vielleicht)“, so läuft der Tag. „Ein Sechs-Wort-Leben ist auch ein Leben, irgendwie. Elena kann nicht aufhören, an Gestern oder Morgen zu denken. Nur ein einziger Gedanke findet Raum in ihrem Kopf: Sie muss die ihr Anvertrauten retten.“ So versucht sie, hier ein bisschen Brot oder ein paar Kartoffeln einzutauschen gegen etwas, was sie eigentlich gar nicht entbehren kann. Sie näht aus einer Jacke zwei, damit sie und Ava eine Chance haben, den Sibirischen Winter zu überleben. Sie hilft mit ihrem Heilkräuter-Wissen und begegnet dem Arzt Samuel Birnbaum, halb verhungert, mit abgerissenem Arm. Sie bekommt ein Kind. Was sie letztendlich alles tun muss und tut und was Ava dazu beiträgt, das soll hier jetzt nicht geschrieben werden.

Ungeheuerlichkeit des Alltags

Zum Ende des Buches jedenfalls liegt Elena in Valparaíso im Krankenhaus und hat dann doch alles erzählt. Der Enkel hatte sich dennoch getäuscht: Ja, es war so schwer!

Schicksal

Elenas Schicksal hat sich die Autorin ausgedacht. Es könnte real gewesen sein und ist ein erschütterndes Beispiel für das, was Menschen Menschen in rechtlosen, undemokratischen Systemen, auch heute noch, zufügen: Leid, Leid und Leid. In einer wunderbaren Sprache gelingt es Karin Bruder, uns mitten in die Ereignisse und die Gefühle ihrer Hauptfiguren zu führen – und uns dort so lange festzuhalten, bis es wehtut. Dabei verwendet sie eine erzählende Sprache, oft in einem poetischen Pragmatismus, in dem sie uns die Ungeheuerlichkeit des Alltags von Elena wie nebenher mitteilt. Dass wir von Anfang an wissen, dass Elena überlebt hat, und dass sie 1993 für 20 Jahre Verbannung 56 Deutsche Mark Entschädigung erhalten hat, schadet der Spannung nicht. (rist)

Info:

Karin Bruder: Weiße Jahre – Roman einer verlorenen Zeit, J. S. Klotz Verlagshaus, 416 Seiten, Din A 5, Hardcover, ISBN: 978-3-948968-27-4, 19,90 Euro

Karin Bruder liest am Sonntag, 13. Oktober, um 17 Uhr, im Gartensaal des Karlsruher Schlosses dem Publikum aus ihrem Buch vor.

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Ausgabe 38/2024
von Redaktion Nussbaum
20.09.2024
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