Leo ist egoistisch und sadistisch. Darunter leidet Mattie, seine verschüchterte Ehefrau, sehr. Als Nachbarin Edelmut den bissigen Hund der beiden in Pflege nimmt, hat sie eine wunderbare Idee, wie sich etwas ändern könnte.
Brutus, so der Name des Tieres, muss die Zeit, bis sein Herrchen ihn wieder abholen will, in einer Kammer mit Wasser und ohne Futter verbringen. Was dann nach zwei Wochen passiert, löst Matties Problem. Mit dieser Szene beginnt der Auftritt der Theatergruppe „Die Ungezähmten“ im Gemeindezentrum Am Zwinger in Durlach. Sieben Kurzgeschichten um alte Frauen aus dem Buch „Kleine Kratzer“ von Jane Campbell spielen die vier Laien-Schauspielerinnen Karin Jurcik, Sigrid Kleinsorge, Birgitta Kolb und Vera Ruf. Alle vier sind über 60 Jahre alt. Regie führt Mimi Schwaiberger.
Auch die geschätzt 30 Zuschauerinnen und die vier, fünf Zuschauer sind mehrheitlich über 60 Jahre alt. Immer wieder ist zu erkennen, dass sie ganz genau verstehen, was den Figuren auf der Bühne passiert. Sie lachen wissend, und trocken, wenn sie durch die Aufführung mit den eigenen kleinen, oder großen, Kratzern konfrontiert werden.
Da ist etwa Freya. Sie thematisiert, was für viele, die allein leben, schmerzhafter Alltag ist: Es fehlt der Hautkontakt. Dass sie ein Phantasma liebt, das von höherer Stelle alten, einsamen Menschen zur Verfügung gestellt wird, macht die Dramatik deutlich. Martha, eine weitere Figur, bekommt zu hören: „Du sollst immer bei guter Laune und beschäftigt sein“, als sie einem Betreuungs-Roboter zugeteilt wird. Der allerdings ist so programmiert, dass er ihr Kontakte, Entscheidungsfreiheit, Zigaretten und Pralinen verbietet. Bevor sie sich, sozusagen, entspannt eine Zigarette anzünden kann, lockt sie ihn auf den Balkon, um ihn zu Schrott zu stürzen.
Daisy, so eine weitere Geschichte, besucht einen aufgebahrten Toten und gerät in einer Illusion zurück in ihr Leben als junge Frau. Eine als „?“ bezeichnete Frau beschreibt en detail ein Bild an der Wand. Nur sie sieht es und es ist tief in ihren Erinnerungen verwurzelt. Ja, sie vergesse, schon immer, jetzt mehr, doch schlimm sei, dass ihr nun ein ganz wichtiges Wort fehle.
„Kleine Kratzer“ zeigt, wie ein langes Leben bedeuten kann, dass das Selbstverständliche mit den Jahren verloren geht und von außen massiv ins eigene Dasein eingegriffen wird. Das Stück ist ein wunderbares Angebot, sich damit auseinanderzusetzen und Gegenstrategien zu entwickeln. „Wir spielen Frauen im Alter“, sagt Sigrid Kleinsorge, mit 84 Jahren die Älteste der Schauspielerinnen. „Wir zeigen Aspekte, die alte Menschen und ihre jungen Angehörigen interessieren könnten und die nicht oft erwähnt werden. Es geht um Einsamkeit, Abschiebung, Verlust-Erinnerungen, Sexualität, Sehnsüchte und Hoffnungen.“ Was alte Menschen empfänden, werde oft gar nicht mehr wahrgenommen, manchmal auch nicht von ihnen selbst. „Ich denke, Altern ist ein großes Thema in unserer Gesellschaft, das nicht angemessen erörtert wird“, sagt sie weiter. „Ich würde mir wünschen, dass alte Menschen selbstbestimmt leben dürfen. Sie sollten nicht ohne ausreichende Möglichkeit zur Teilhabe in sehr teuren Pflege-Einrichtungen weggesperrt werden.“ Für sie sei dieses Theaterstück ein Appell an die Solidargemeinschaft, nicht wegzuschauen. Alte Menschen hätten nicht nur körperliche und geistige Einschränkungen. „Sie haben etwas mitzuteilen“, sagt Sigrid Kleinsorge weiter, „nicht nur Schreckliches, sondern auch viel Schönes, Liebe, Fantasien, Wünsche und erlebte Verrücktheiten.“ (rist)