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Kinder & Jugend

Aus unserer Reihe „Kriegskinder“ – heute: Erinnerungen von Henriette Sischka geb. Bier aus Weiher

Henriette Sischka geb. Bier, geboren am 15. November 1936 in Mödritz Kreis Brünn (heute Tschechien, ehemals Mähren). Zusammen mit ihrer Mutter...
Foto: Familie Sischka

Henriette Sischka geb. Bier, geboren am 15. November 1936 in Mödritz Kreis Brünn (heute Tschechien, ehemals Mähren).

Zusammen mit ihrer Mutter Theresia (1913–1994), einer Weberin, und der kleinen Schwester Irmfriede (1940–2024) lebte Henriette Bier im 2000-Seelen-Dorf Mödritz im damaligen Protektorat Mähren. Mit seiner ertragreichen Landwirtschaft und dem Weinbau war es eine sehr fruchtbare Gegend. Weitläufige Getreidefelder wechselten sich mit großen Obstplantagen und Gemüsefeldern ab. Der Vater Rudolf (1910–1942), ein gelernter Metzger, fiel bereits 1942 als Wehrmachtssoldat auf dem Marsch nach Stalingrad in den Weiten Russlands.

Mähren ist eine historische Region in Mitteleuropa, die heute Teil der Tschechischen Republik ist. Ihre Geschichte ist geprägt von wechselnden Herrschaften und kulturellen Einflüssen. Ursprünglich von slawischen Völkern besiedelt, wurde Mähren im Mittelalter Teil des Heiligen Römischen Reiches und kam später zur Habsburger Monarchie. Dadurch wurde die Region stark von deutschen und österreichischen Einflüssen geprägt. Im Zuge der mittelalterlichen Ostkolonisation kamen viele deutschsprachige Siedler nach Mähren, die Städte gründeten und zur wirtschaftlichen Entwicklung beitrugen. Besonders in Städten wie Brünn, Olmütz und Znaim bildeten Deutsche oft die Mehrheit. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Gründung der Tschechoslowakei 1918 blieben viele deutschsprachige Minderheiten in der Region.

Dieses Gebiet erlebte in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg viele Spannungen zwischen tschechischen und deutschen Bevölkerungsgruppen. 1938 führte das Münchner Abkommen zur Abtretung der Sudetengebiete an Deutschland, wodurch auch Teile Mährens an das Deutsche Reich fielen.

In den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts führte die kleine Familie, abgesehen von dem tragischen Verlust des Ehemanns und Vaters, noch ein relativ normales Leben. Durch den engen Familienverbund mit Großeltern, Tanten, Onkeln und Kusinen waren die Schrecken des großen Krieges wenig bemerkbar und die beiden Mädchen erlebten eine unbeschwerte Kindheit.

Erst als im Sommer 1944 englische Flugzeuggeschwader auch über das beschauliche Mödritz flogen und über Brünn, der sieben Kilometer entfernt gelegenen Stadt, ihre tödliche Fracht abluden, war auch hier der Frieden vorbei. Die von den kleinen Mädchen am Himmel noch bewunderten glitzernden und strahlenden Flugzeuge vernichteten die florierende Industrie in Brünn weitgehend und zahlreiche Menschen verloren ihr Leben.

Das Kriegsgeschehen in den letzten Wochen vor der Kapitulation des Deutschen Reichs zog auch Mödritz und seine Bewohner in immer stärkerem Maße in Mitleidenschaft. Ende März 1945 trat die 4. Ukrainische Front der Russen durch die Mährische Senke zum Angriff auf Brünn an. Die deutschen Einheiten waren nach Kampfstärke und Bewaffnung zu einer entscheidenden Verteidigung nicht mehr in der Lage, sie konnten das russische Vorgehen nur hinhalten.

Seit der Nacht von Ostermontag auf Dienstag (12. auf den 13. April 1945) wurde auch Mödritz verstärkt von Flugzeugen angegriffen. Der große örtliche Weinkeller, der unter den Feldern lag, wurde von den Familien immer häufiger aufgesucht und diente als Dauerbleibe. Familie Bier flüchtete sich zunächst in einen kleineren privaten Luftschutzkeller. Nun folgten tägliche Angriffe der russischen Mehrfachraketenwerfer, von der Wehrmacht wegen der Anordnung der Raketen und dem charakteristischen pfeifenden Geräusch „Stalinorgel“ genannt. Am 20. April 1945 stand die russische Armee unmittelbar vor Mödritz, welches nun auch Ziel von Jagdbomber-Angriffen wurde. Infolge eines solchen Angriffs hatte Mödritz drei Tote zu beklagen.

Mutter und Töchter Bier selbst wurden in dem Luftschutzkeller, in dem sie Zuflucht gesucht hatten, von einer Granate getroffen, leicht verletzt konnten sie sich jedoch retten. Die kleine Henriette, die kurze Zeit bewusstlos war, entwickelte seit diesem traumatischen Erlebnis eine fürchterliche Angst vor Donnergrollen und allen lauten Geräuschen.

Nach der Zerstörung des eigenen Kellers suchte die kleine Familie anschließend auch in dem großen örtlichen Weinkeller Zuflucht, in dem viele weitere Menschen ausharrten. Auf Decken und Matratzen warteten die Menschen die Dinge ab, die noch auf sie zukommen sollten.

Nach kurzer Zeit erfuhr man, dass bereits russische Soldaten im Ort waren. Sie durchsuchten das Dorf und fanden auch schnell den Weinkeller mit den zahlreichen verängstigten Menschen. Die Soldaten trieben die Zufluchtsuchenden aus dem Keller und befahlen ihnen, in ihre Häuser zurückzukehren. Dabei kam es zu umfangreichen Plünderungen und Übergriffen auf Frauen und Mädchen durch die russischen Soldaten.

Die kleine Familie Bier suchte Unterschlupf bei den Schwiegereltern, da die Angst der alleinstehenden Frau mit den zwei Mädchen vor Übergriffen zu groß war. Man vermied es, auf die Straße zu gehen, nur die ältesten Frauen gingen aus dem Haus.

Nach der deutschen Kapitulation am 9. Mai 1945 übernahmen die Tschechen wieder die Macht in ihrem mährischen Landesteil.

Für die Menschen in Mödritz, die nun wieder in ihren Häusern leben und ihre Tiere versorgen konnten, begann eine entbehrungsreiche Zeit, mussten sie doch einquartierte russische Soldaten zusätzlich von ihren mageren Lebensmitteln mitversorgen. Immerhin kam es kaum noch zu Übergriffen der russischen Soldaten, da die Offiziere für mehr Disziplin sorgten.

Doch es sollte noch viel schlimmer kommen: Am 31. Mai, dem Fronleichnamstag des Jahres 1945, wurde ab 5 Uhr in der Frühe eine Durchsage durch Lautsprecher ständig wiederholt, die die deutschen Bewohner aufforderte, sich innerhalb von drei Stunden an der Sammelstelle beim Ortsausgang einzufinden. Mitgenommen werden durfte nur Wäsche zum Wechseln, eine Decke und Essen für drei Tage. Wertgegenstände, Schmuck, Sparbücher und Waffen mussten im Rathaus abgegeben werden. Alle Bewohner wurden untersucht, ob dem auch Folge geleistet worden war. Keiner wusste, was nun passierte, die Menschen waren komplett verstört. Kopflos liefen sie hin und her, wussten nicht, was sie auf die Schnelle einpacken sollten. Nach den angekündigten drei Stunden trieben die Soldaten die Menschen aus dem Dorf in Richtung Österreich. Mitgenommen werden durfte höchstens ein Kinderwagen oder ein kleiner Leiterwagen. Wohin es ging, wusste keiner. Insgesamt marschierten in diesen Tagen 65.000 Menschen aus Brünn und Umgebung auf der Kaiserstraße nach Süden. Nach fünf Tagen erreichten die völlig entkräfteten Menschen Österreich. Für viele alte und kranke Menschen kam jede Hilfe zu spät, sie mussten am Wegrand zurückgelassen werden und kamen jämmerlich um.

65 Familien aus Mödritz, darunter auch die Familie Bier, mussten im Ort bleiben und sind so zumindest dem Todesmarsch entgangen, waren aber nun die Gefangenen der Tschechen. Sie hatten keinen Kontakt zu den Familienmitgliedern, die bereits in Österreich waren und wussten nicht, ob diese noch lebten. Wiederholt waren die letzten deutschen Familien Repressalien und Übergriffen der Besatzer ausgesetzt. Familie Bier hatte Glück im Unglück, da bereits ein tschechischer Mitbürger im Haus wohnte und sie so vor den täglichen Dreistigkeiten verschont wurden. Die Familie Bier durfte den Wohnort nicht verlassen und es musste eine weiße Armbinde getragen werden.

Die zurückgehaltenen deutschen Familien wurden in den Fabriken als Arbeitskräfte benötigt. Vor allem die Männer wurden abgeholt und in Lagern untergebracht, um in der Landwirtschaft zu arbeiten. Gleichzeitig wurden das Dorf, die Häuser und Höfe durch Tschechen, die man umgesiedelt hatte, übernommen.

Im Frühjahr 1946 wurde den übriggebliebenen deutschen Familien die Möglichkeit gegeben, einen Antrag zur Umsiedlung zu stellen. Die erste Gruppe aus 29 Familien durfte im März 1946 mit immerhin 25 Kilogramm Gepäck pro Person nach Deutschland ausreisen. Familie Bier war im zweiten Transport, der am 1. Juli mit 29 Familien und insgesamt 75 Personen ausreisen durfte. Mit Lastwagen wurden sie zunächst in ein Lager gefahren. Wieder überprüfte man sie, ob nicht doch noch Wertsachen vorhanden sind, die den Menschen noch abzunehmen waren. Glück hatte die kleine Henriette, denn ihre Mutter hatte die heißgeliebten Ohrringe der Tochter in den Saum einer alten Decke eingenäht. Es sollten die einzigen Erinnerungsstücke an die alte Heimat bleiben.

Vom Lager aus wurden die Vertriebenen auf Lastwagen zur Bahn gebracht und dort auf Viehwaggons mit jeweils 30 Personen verteilt. Man schlief auf Säcken und den noch verbliebenen Habseligkeiten. Erst nach eineinhalb Tagen hielt der Zug zum ersten Mal an und die Menschen konnten ihre Notdurft im Wald verrichten.

Nach drei Tagen erreichte der Zug Furth im Wald und somit das Deutsche Reich. Hier wurden die Vertriebenen zunächst entlaust. Man wusste immer noch nicht, wohin es eigentlich ging. In Furth im Wald wurde der Zug aufgeteilt und Familie Bier kam nach Wasseralfingen bei Aalen auf der Schwäbischen Alb in das ehemalige KZ-Außenlager „Wiesendorf“. Der Aufenthalt dort mit Gemeinschaftsverpflegung, Stockbetten in riesigen Schlafsälen und Gemeinschaftswaschräumen dauerte ca. zwei Wochen. Von hier aus wurden die Menschen auf die einzelnen Ortschaften aufgeteilt. Henriette, die Mutter und die kleine Schwester, kamen zusammen mit 30 weiteren Personen auf einem Lastwagen nach Waldhausen bei Aalen, wo sie zunächst in einem Schulraum untergebracht waren. Waldhausen war ein kleiner Ort mit einem Rathaus, einer Dreiklassen-Schule, einer Bäckerei, zwei Gasthäusern sowie einem kleinen Lebensmittelgeschäft. Endlich im August 1946 konnte die dreiköpfige Familie ein eigenes Zimmer in einem kleinen, drei Kilometer entfernten Ortsteil mit ca. 20 Häusern beziehen. Mit weiteren Vertriebenen wurden sie in einem verwahrlosten, abbruchreifen Haus, einem sogenannten „Altgeding“, einquartiert. Ohne Heizung, fließendem Wasser oder Toiletten, Möbel oder einer Kochgelegenheit wurden sie sich selbst überlassen.

Hier wohnte Familie Bier bis 1951. Mit Hilfsarbeiten bei einer Bauersfamilie konnte die Mutter ihr Einkommen etwas aufbessern. Die mageren Lebensmittelmarken konnten in dem kleinen Lebensmittelgeschäft im drei Kilometer entfernten Waldhausen eingelöst werden. Henriette und ihre Schwester marschierten jeden Tag dreieinhalb Kilometer zur Schule, direkt am Wald entlang. Das war vor allem im Winter eine harte Tour. Bis nach Aalen, der nächstgelegenen Stadt, waren es 13 Kilometer, die ebenfalls zu Fuß zurückgelegt werden mussten, sollte man dort etwas zu erledigen haben.

Endlich 1951 trafen Nachrichten über den Verbleib der übrigen Familienangehörigen ein. Nun zog die kleine Familie nach Hemsbach an der Bergstraße zur Schwester der Mutter. Erst hier war den beiden Mädchen eine Ausbildung möglich.

Nachdem Henriette die Volksschule in Waldhausen abgeschlossen hatte, konnte sie in Schwäbisch Gmünd das Aufbaugymnasium besuchen. Hier erreichte sie nach zwei Jahren die Mittlere Reife. Anschließend wurde sie im Fröbelseminar in Mannheim in zwei Jahren zur Kindergärtnerin ausgebildet. Danach arbeitete sie in verschiedenen Kindereinrichtungen als Kindergärtnerin.

Im Jahr 1960 lernte sie ihren späteren Ehemann, den Lehrer Benno Sischka (1936–2018) aus der ehemaligen Nachbarstadt Olmütz, in einem Winterlager der Ackermann-Gemeinde, einer sudetendeutschen kirchlichen Gemeinschaft, in Bad Herrenalb kennen. 1962 folgte dann die Eheschließung.

Die junge Familie Sischka lebte zunächst in Brühl, eine weitere Station war Altlußheim, bis 1976 der endgültige Umzug nach Weiher stattfand. Nach der Geburt der beiden Söhne 1963 und 1966 war Henriette Sischka ausschließlich mit der Erziehung der Kinder und der Führung des Haushalts beschäftigt. Ab 1981 bis zum Eintritt ins Rentenalter im Jahr 1996 arbeitete sie im Kindergarten St. Nikolaus in Weiher. Benno Sischka war von 1976 ebenfalls bis zum Eintritt ins Rentenalter im Jahr 1999 Rektor der Grund- und Hauptschule und später der Grundschule in Weiher.

Das Ehepaar Sischka engagierte sich in ihrer neuen Heimat sehr im Ehrenamt, so war Benno Sischka all die Jahre, seit die Familie in Weiher lebte, Organist in der St. Nikolauskirche und viele Jahre Mitglied des Pfarrgemeinderats. Seit 1991 gehörte er dem Heimatverein an, übernahm im Jahr 2000 das Amt des 2. Vorsitzenden und war daneben zeitweise auch Ortsteilvertreter von Weiher. Aufgrund seiner Verdienste um den Heimatverein wurde er im Jahre 2011 zum Ehrenmitglied ernannt. Henriette Sischka engagierte sich viele Jahre in der Katholischen Frauengemeinschaft in Weiher und hat hier auch viele gute Spuren hinterlassen.

Seit beinahe 50 Jahren hat die Familie Sischka nun eine neue Heimat in Weiher gefunden. Wenn man es nicht selbst erlebt hat, ist es wohl nur schwer nachvollziehbar, was die Entwurzelung eines Menschen aus seiner angestammten Heimat mit ihm macht. Das Urvertrauen, das eine große Familie und ein behütetes Umfeld einem Kind mitgibt, wurde diesen Kriegskindern geraubt. Henriette Sischka berichtet heute noch, dass sie nicht leicht Beziehungen zu anderen Menschen eingehen kann, weil die Angst vor dem Verlust zu groß ist. Glücklicherweise wurde sie von der Weiherer Dorfgemeinschaft sehr gut aufgenommen und fand hier eine schöne Heimat. Und noch immer sehr rüstig und aktiv kann sie sich an ihrer wunderbaren Puppensammlung erfreuen.

Autorin: Beate Harder, mit den Erinnerungen und Aufzeichnungen von Henriette Sischka

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Mitteilungsblatt Ubstadt-Weiher
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Ausgabe 23/2025
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