Heinrich Herzog oder „Heini“ wie ihn jedermann nannte, wurde am 28.09.1929 als zweiter Sohn der Eheleute Wendelin Herzog (1898 – 1967) und Karoline geb. Händel (1899 – 1965) geboren. Drei weitere Geschwister folgten und machten so die Familie komplett.
Da es den Eltern wichtig war, dass ihre Kinder einen guten Beruf für das eigene Auskommen hatten, durfte auch Heini wie seine drei Brüder und seine Schwester eine gewerbliche Ausbildung beginnen. So trat Heini seine Lehrstelle am 1.4.1944 als Feinmechaniker bei der damaligen Firma „Vereinigte Eisenbahn-Signalwerke“ Werk Bruchsal an, die einen großen Bedarf an Facharbeitern hatte. Viele junge Menschen aus Bruchsal und den umliegenden Gemeinden taten hier ihren ersten Schritt ins Berufsleben.
Die Vereinigten Eisenbahn-Signalwerke (VES) in Bruchsal produzierten mechanische Stellwerkstechnik. Die VES entstand durch Zusammenschlüsse verschiedener Signalbaufirmen, darunter Siemens. Das Werk in Bruchsal war insbesondere für die Entwicklung und Herstellung von Stellwerkstechnik bekannt. Ursprünglich war sie Teil des Unternehmens Siemens & Halske bzw. gehörte zur Siemens-Gruppe, die schon vor dem Krieg Signaltechnik entwickelte.
In seinem „Werkstattbuch“, einem Berichtsheft, das auch heute noch jeder Auszubildende zu führen hat, berichtete er über seinen 1. Arbeitstag: „Am 1. April wurde ich mit noch 38 anderen Lehrlingen in die Vereinigten Eisenbahn-Signalwerke aufgenommen. Nachdem wir uns morgens um 9 Uhr gemeldet hatten, gingen wir unter Leitung unseres Ausbildungsleiters zuerst in den schönen hellen Lehrlingsraum. Hier wurden wir von ihm im Namen der Werkleitung begrüßt. Anschließend ging es in die eigentliche Lehrwerkstatt, wo wir unsere Plätze vor den Schraubstöcken zugewiesen bekamen …“ In vielen Stunden brachte man den jungen Menschen unter anderem „Block- oder Normschrift“ bei, um technische Zeichnungen und Anweisungen korrekt zu beschriften. Ebenso gehörte perspektivisches Zeichnen von Körpern und technischen Anlagen zur Ausbildung sowie die praktischen Tätigkeiten wie sägen, feilen und fräsen.
Im Juni 1944 wurden die Auszubildenden zu einer „Schrottaktion“ zusammengerufen. Ziel war es, so viel als möglich Metallreste zusammenzusuchen, „um die Leistung unserer Soldaten noch zu erhöhen und um dem Feind noch höhere Verluste zuzufügen“. Die Jugendlichen sammelten alles herumliegende Eisen zusammen, hierbei wurden sie vermutlich zu „Propagandazwecken“ mehrmals fotografiert und verluden es auf einen Güterwagen.
Auch Urlaub stand den Auszubildenden zu, Heini berichtete dazu: Vom 24.07. bis 10.08.1944 hatten wir Urlaub. Am ersten Tag fingen wir mit der Ernte an, danach folgten einige Regentage. In den letzten 14 Tagen fing die Ernte erst richtig an. Wir mähten Tag für Tag, was mir besonders Spaß machte. Wir brachten 9 Viertel Weizen, 14 Viertel Roggen und 5 Viertel Gerste ein. Ich hatte in meiner ganzen Lehrzeit noch nicht so viel geschwitzt wie in meinem Urlaub.“
Die Auszubildenden der VES wurden auch zum Arbeitseinsatz für das Vaterland einberufen: Im August 1944 wurden sie an einem Freitag nach Bruchsal an den Bahnhof beordert. Sie fuhren mit dem Zug nach Straßburg-Zabern. Nach einem ersten Fliegerangriff der feindlichen Flieger ging es in Zabern weiter durch die Vogesen, immer dem Rhein-Marne-Kanal entlang. Nach vier Tagen waren die Jugendlichen endlich an ihrem Bestimmungort angekommen. Schmutzig und müde suchten sie sich ein Lager. Einige Zeit später ging die Arbeit an der Schanze los, mit Schaufeln und Spaten und wie Heini berichtete, mit leerem Magen.
Die Auszubildenden der VES wurden ungeachtet des Krieges und sogar gelegentlicher Bombenangriffe weiterhin sehr sorgfältig ausgebildet. Der Umgang mit Feilen, Fräsen und anderen Metallbearbeitungsformen wurde den jungen Menschen von Grund auf beigebracht.
Im Dezember 1944 fertigten die Auszubildenden Spielzeug für die Soldatenkinder, deren Väter vor dem Krieg im VES-Werk beschäftigt und zum Kriegsdienst eingezogen waren. Entenfamilien, Vor- und Hauptsignale, Zwerge als Moorradfahrer und noch etliche andere Sachen bereicherten den Gabentisch dieser Familien an Weihnachten.
Wegen der sich mehrenden Fliegerangriffe mussten die Auszubildenden immer wieder ausrücken, um Bombenschäden auszubessern. Der schwere Luftangriff am 1.3.1945 auf Bruchsal traf auch die Maschinenfabrik schwer. Da der Angriff am Tage erfolgte, war die gesamte Belegschaft im Werk. Bei einem Volltreffer auf das Verwaltungsgebäude fanden 106 Menschen den Tod, die im Keller Schutz gesucht hatten; außerdem wurde die Montagehalle zerstört. Die mechanischen Werkstätten und die Schmiede blieben dagegen erhalten.
Bei Bombenangriffen hatte jeder Betriebsangehörige seinen zugewiesenen Schutzplatz im Luftschutzkeller. An diesem furchtbaren 1. März 1945 als die Bomber bereits über Bruchsal flogen und ihre tödliche Last abluden, war Heini mit seinen Kollegen noch im Werk an seinem Arbeitsplatz und versuchten sich in den Luftschutzkeller in Sicherheit zu bringen. Dabei war er versehentlich am falschen Platz und wollte nochmals rauslaufen. Zum guten Glück hielt ihn sein Ausbilder fest, dies rettete ihm das Leben, denn genau zu dieser Zeit wurde das Gebäude getroffen und einige seiner Mitlehrlinge wurden tödlich getroffen. Nach dem Ende der Bombardierung schickte man die Mitarbeiter heim. Heini und seine Freunde marschierten zum Teil um Bombentrichter herum durch das zerstörte Bruchsal. Überall waren rauchende Ruinen und schreiende Menschen. Als er beim Schloss ankam, sah er auch hier die totale Zerstörung des historischen Gebäudes.
In den folgenden Tagen kamen die überlebenden Mitarbeiter der VES täglich zusammen, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Am 1. April 1945 wurde Bruchsal durch die Amerikaner besetzt. Eine Zeit der Orientierungslosigkeit begann. Niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Das endete Anfang Juli, als die Mitarbeiter angewiesen wurden, bei den Aufräumarbeiten des Werkes mitanzupacken. Dabei lag die Verantwortung für den Wiederaufbau zunächst bei der Werksleitung. Diese setzte sich aus leitenden Ingenieuren, Technikern und Verwaltungsbeamten zusammen, teils noch aus der Vorkriegszeit. Sie organisierten die Sicherung der verbliebenen Maschinen und Materialien, den Wiederaufbau der Werkhallen und die Planung der Wiederaufnahme der Produktion.
Nach Kriegsende und Abzug der Amerikaner lag Bruchsal in der französischen Besatzungszone. Die Franzosen genehmigten oder verhinderten bestimmte industrielle Tätigkeiten. Sie überwachten auch den Wiederaufbau industrieller Betriebe – besonders solcher mit strategischer Bedeutung wie die VES (Signaltechnik für Bahnen). Allerdings erlaubten sie relativ frühzeitig eine Wiederaufnahme der Produktion, weil Bahnsignale für den Wiederaufbau der Bahn-Infrastruktur in ganz Südwestdeutschland dringend benötigt wurden. Die Wiederaufnahme der Arbeit geschah unter schwierigen Bedingungen – aber mit hohem Eigenengagement und der Bedeutung des Produkts im Rücken: Signaltechnik war systemrelevant für das Nachkriegsdeutschland.
Heini schreibt dazu in seinem Berichtsheft: „Vom 01.07. bis 01.09.1945 mussten wir Aufräumungsarbeiten verrichten. Wir schaufelten uns zuerst einen Weg, in den wir ein Gleis legten, um den Schutt wegzufahren. Es kamen Schreibmaschinen, Telefone und Akten zum Vorschein, die wir alle vorsichtig ausgruben und trockneten. Als wir auf den Keller der Elektrozentrale stießen, fanden wir plötzlich einen eisernen Schrank, es war der Kassenschrank. Herr Bruker brachte den Schlüssel und er wurde geöffnet. 8000 Reichsmark und wichtige Akten waren zu sehen, in der Ecke lag noch eine alte Pistole mit Munition. Am nächsten Tag bekamen wir unser erwartetes Bier. Nach 8 Wochen wurde ich in die Lehrwerkstatt versetzt.“
Nach dem Ende seiner erfolgreichen Ausbildung im Oktober 1947 blieb Heini Herzog dem Unternehmen VSE und später der Mutterfirma Siemens bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1986 [F1] eng verbunden. Er starb am 9. Mai 1999.
Autorin Beate Harder
Fotos: Familie Herzog, Stadtarchiv Bruchsal, Siemens Archiv