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Benefizveranstaltung im Kulturhaus „Couchsurfing in der Ukraine“

Bestsellerautor Stephan Orth: Tiefe Einblicke in ein Land im Krieg Das Kulturforum Wiesloch organisierte zugunsten des Vereins Pickup4Ukraine einen Abend...
(V. l.) Dr. Annette Ehrnsperger (Pickup4Ukraine), Jürgen Grimm (Kulturforum), Journalist und Autor Stephan Orth sowie Mike Sylvester (Pickup4Ukraine).
(V. l.) Dr. Annette Ehrnsperger (Pickup4Ukraine), Jürgen Grimm (Kulturforum), Journalist und Autor Stephan Orth sowie Mike Sylvester (Pickup4Ukraine).Foto: LIP

Bestsellerautor Stephan Orth: Tiefe Einblicke in ein Land im Krieg

Das Kulturforum Wiesloch organisierte zugunsten des Vereins Pickup4Ukraine einen Abend mit Stephan Orth, dem Autor des Buches „Couchsurfing in der Ukraine: Meine Reise durch ein Land im Krieg – Das packende Porträt eines belagerten Landes und seiner Menschen“. Orth arbeitete für Spiegel-Online, bis er sich 2016 als Autor selbstständig machte. Seitdem taucht er über das sogenannte „Couchsurfing“ auf unkonventionelle Weise tief in den Alltag der Menschen in anderen Ländern ein.

Bereits sein erstes Buch schaffte es auf die Bestsellerlisten. Beim sogenannten „Couchsurfing“ bieten private Gastgeber kostenlose Übernachtungen auf ihrer Couch an. Es werden häufig auch gemeinsame Aktivitäten organisiert. Gast und Gastgeber finden sich über Couchsurfing-Online-Portale. Auf diese Weise bereiste Orth bereits Länder wie China, Saudi-Arabien oder Russland.

Sonnenblumen, blauer Himmel und Luftalarm

Die Veranstaltung war als multimedialer Vortrag angekündigt worden. Tatsächlich standen Fotos und freie Beschreibungen im Vordergrund, weniger das Vorlesen von Buchpassagen. Ein eindringlicher Auftakt war das Bild eines Sonnenblumenfeldes unter strahlend blauem Himmel. Orth ließ dazu Sirenen im Luftalarm heulen. Wie die Sonnenblume als Nationalblume der Ukraine gehört auch der Sirenenalarm seit Jahren zum Alltag der Ukrainer. Von Kyiv aus bereiste Orth das Land in mehrtätigen Etappen und kam dabei dem Kriegsgeschehen und der russischen Grenze ganz nahe. Der Schriftsteller hat ein gutes Gespür für Situationskomik, die sich auch im Kriegsalltag wiederfindet. Durch humorvolle Anekdoten brachte er immer wieder etwas Leichtigkeit in den Vortrag: Ein Mann im Bärenkostüm möchte Selfies an einer Gedenkstätte für gefallene Soldaten verkaufen. Die Englischschüler seiner Gastgeberin wollen wissen, warum die Verkäufer im Supermarkt in Bochum kein Englisch sprechen. Der harte Kampf der Ukrainer für ein freies Leben als demokratischer, europäischer Staat wurde dadurch aber nie verharmlost.

Überlebensstrategien im Alltag

Durch viele Fotos und traurig-schöne Berichte aus verschiedenen Regionen der Ukraine erfuhr das Publikum viel über das Überleben im Kriegsalltag. Menschen, die täglich scheinbar gefasst an Häuserruinen vorbeigehen, brechen plötzlich zusammen, wenn sie Bilder ihrer unzerstörten Stadt vor dem Krieg sehen. Ein junger Gastgeber feierte das einmonatige Zusammensein mit seiner Freundin eine ganze Nacht lang. Orth wurde kurzerhand zum persönlichen Fotografen ernannt, der den Event mit hunderten Bildern festhalten musste. Ein Japaner ist zur Zeit des Kriegsausbruchs in Kharkiv im Urlaub. Er blieb in der Ukraine, baute einen japanischen Imbiss auf, ist bis heute vor Ort und ein Star in den sozialen Medien.

Kunstszene trotz des Krieges sehr lebendig

Orth zeigte immer wieder Bilder von Kunst im öffentlichen Raum. Ukrainische Künstler thematisieren den Krieg und die Hoffnung auf Frieden nicht nur in Galerien, sondern auch auf öffentlichen Plätzen oder in der U-Bahn. Der international bekannte Street-Art-Künstler Banksy hat mehrere Kunstwerke in der Ukraine geschaffen. Thema ist oftmals Hoffnung auf Frieden oder Anspielungen auf den Sieg von David über Goliath.
Die Ukrainer lieben auch ihre Dichter und sind das Land mit den meisten Statuen von Lyrikern.

Couchsurfing in Russland im Rückblick

Als Orth einige russische Propagandavideos mit deutscher Übersetzung zeigte, ging ein deutliches Raunen durch die Zuschauer. Mögen sich viele schon an die Bilder der Ruinen in den täglichen Nachrichten gewöhnt haben, wissen deutlich weniger, wie martialisch das russische Staatsfernsehen zur Primetime gegen Ukrainer und den gesamten Westen hetzt. In diesem Kontext ordnete der Autor auch den Untertitel seines 2017 erschienenen Buches „Couchsurfing in Russland: Wie ich fast zum Putin-Versteher wurde“ ein. Orth fragt sich, ob er damals vielleicht nicht kritisch genug gewesen war. Nach der Veröffentlichung einer Stellungnahme zusammen mit dem Verlag wird das Buch mittlerweile nicht mehr beworben. Kontakte zu alten Gastgebern in Russland sind schwierig. Auch hochgebildete Menschen sind stark von der Kriegspropaganda beeinflusst oder haben schlicht Angst vor dem Putin-Regime.

Die Hoffnung bleibt bestehen

Auf die Frage, was Stephan Orth noch Hoffnung macht, verweist er auf seine ukrainischen Freunde. Nach beinahe zwei Stunden beendet er den Vortragsteil mit Videos, in denen sich seine Couchsurfing-Gastgeber vorstellen. Das tief beeindruckte Publikum hatte noch Gelegenheit, Fragen an den Autor und auch an die Hilfsorganisation Pickup4Ukraine zu stellen. Der persönliche Dank anwesender Ukrainer bewies die Qualität des Vortrages, der realistischen Darstellung der Situation und der wichtigen Botschafterrolle gegen das Verdrängen.

Fragen an den Autor Stephan Orth

WieWo: Wie kam es zum Couchsurfing ausgerechnet in der kriegsgebeutelten Ukraine?

Orth: Meine Ex-Freundin ist Ukrainerin und lebt mit ihrer Familie in der ukrainischen Hauptstadt. Wir führten eine Fernbeziehung zwischen Hamburg und Kyiv. Als sich 2023 in Deutschland eine Art Kriegsmüdigkeit breit machte und die Berichterstattung abnahm, wollte ich etwas tun. Ich war jedoch nicht sicher, ob es nicht pietätlos wäre. Die Ukrainer haben genug Probleme und müssen nicht noch deutsche Backpaper beherbergen. Ich stellte die Frage auf einer Couchsurfing-Plattform und bekam sehr viel Zuspruch. Vollends überzeugte mich das Argument „wenn Deutschland eine Million Ukrainer aufnehmen kann, kann die Ukraine doch wohl einen Deutschen aufnehmen“.

WieWo: Planen Sie schon ihr nächstes Buch?

Orth: Normalerweise würde ich jetzt schon am nächsten Buch arbeiten. Allerdings fordert mich das Thema Ukraine emotional noch zu stark und ist zu wichtig, um parallel schon das nächste Projekt zu beginnen.

Veranstaltungshinweise

Am Mittwoch, 12. Februar, lädt das Kulturforum zum Neujahrsempfang ins Kulturhaus ein. Dr. Heidrun Deborah Kämper wird über „Blicke in sprachliche Abgründe. Wie die Rechten gedankliche Räume besetzen“ sprechen. Martin Ritz wird den Empfang musikalisch begleiten. Auf Einladung von Gert Weiskirchen wird am 16. Februar 2025 ein Professor aus der Ukraine in deutscher Sprache seine Erfahrungen und Sichtweise mit interessiertem Publikum teilen. Wer den eindringlichen Ukrainevortrag von Stephan Orth verpasst hat, findet eine Übersicht auf seiner Homepage. Im April kommt er zum Beispiel nach Heidelberg. (ch)

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