Der Gemeindetag Baden-Württemberg hat Anfang Mai eine Blitzumfrage unter seinen 1.065 Mitgliedsstädten und -gemeinden durchgeführt. 685 Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister sowie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister haben sich beteiligt – das entspricht fast zwei Dritteln aller Kommunen im Land. Der Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg, Steffen Jäger, sieht in den Ergebnissen einen unmissverständlichen Auftrag an Bund und Land: „Mit dem Amtsbeginn der neuen Bundesregierung und den bevorstehenden Haushaltsentscheidungen beginnt eine neue politische Phase – auf Bundes- wie auf Landesebene. Diese Phase der Neujustierung muss genutzt werden, um den Kommunen wieder das zurückzugeben, was sie am dringendsten brauchen: Handlungsfähigkeit. Bund und Land stehen in der Pflicht.“
Klare Priorität: Kommunalfinanzen stabilisieren
Laut Umfrage fordern 81 % der Kommunen als vordringlichste Maßnahme der neuen Bundesregierung die Stärkung der Kommunalfinanzen. Das bestätigt auch die aktuelle KfW-Analyse zum Rekorddefizit sowie zu den Zukunftssorgen der Kommunen. Jäger erinnert: „Die Kommunen in Baden-Württemberg haben im Jahr 2024 ein Defizit von über drei Milliarden Euro erlitten. Die Aussichten für 2025 sind noch düsterer, das hat die aktuelle Mai-Steuerschätzung in ernüchternder Weise bestätigt. Allein für das laufende Jahr wurde den baden-württembergischen Kommunen eine weitere Reduktion der Einnahmen in Höhe von 383 Mio. Euro prognostiziert. Bis 2029 summieren sich die Mindereinnahmen sogar auf fast 1,5 Milliarden Euro. Zugleich galoppieren die Ausgaben weiter davon. Dies spiegelt sich auch in unserem Barometer wider. Wenn 82 % der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in unserem BW-Kommunalbarometer vom Mai 2025 eine kurzfristige Stabilisierung der Kommunalfinanzen fordern, dann ist klar: Jetzt muss grundlegend gehandelt werden.
Die vergangene Woche vom Land zugesagte Liquiditätshilfe ist hier ein notwendiger und richtiger Zwischenschritt, den die Städte und Gemeinden anerkennen. Damit werden Zahlungen aber lediglich vorgezogen. Wir brauchen deshalb dringend auch eine strukturelle Stabilisierung der Kommunalhaushalte. Die Finanzlage ist mehr als ein Zahlenwerk – sie ist ein Maßstab für politische Wahrheit. Wenn Haushalte ins Defizit rutschen, wird der politische Anspruch auf Handlungsfähigkeit zur Illusion.“
Auswirkungen spürbar: Einrichtungen schließen, Leistungen kürzen?
Drei Viertel der Kommunen bewerten ihre Haushaltslage bis 2027 als kritisch oder existenzbedrohend. Als Hauptbelastungen gelten Liquiditätsprobleme (47 %) und steigende Abschreibungen (30 %). Der Gemeindetagspräsident warnt eindringlich vor den drastischen Konsequenzen: „Investitionen werden gestoppt oder sind es bereits, Gebühren und Steuern werden erhöht, Einrichtungen geschlossen, freiwillige Leistungen gekürzt. Übersetzt heißt das: die Sanierung der Sporthalle, des Kindergartens oder der Schule müssen ausfallen, Investitionen in Klimaschutz oder Klimawandelanpassung werden gestrichen, die Nutzungsgebühren steigen, die Hebesätze für Grund- und Gewerbesteuer reichen nicht mehr aus, Frei- und Hallenbäder lassen sich nicht mehr halten, die Vereinsförderung kommt auf den Prüfstand, Öffnungszeiten in Kitas oder auch der Bibliothek müssen reduziert werden. Damit steht das Fundament kommunaler Daseinsvorsorge auf dem Spiel.“
Reform statt Flickwerk: Kommunen fordern Strukturwandel
Neben Finanzfragen rückt für die Kommunen die Umsetzbarkeit politischer Entscheidungen vor Ort in den Fokus. Sie fordern realistische Aufgabenverteilungen, echte Konnexität und eine ehrliche Debatte über die Grenzen der staatlichen Leistungsfähigkeit. „Deutschland – und auch Baden-Württemberg – hat über Jahre, ja Jahrzehnte über seine Verhältnisse gelebt. Anspruch und Wirklichkeit müssen wieder ins Lot gebracht werden. Wir brauchen eine gesamtstaatliche Reform mit klaren Prioritäten und realistischen Aufgaben“, so Jäger.
Bürokratieabbau wichtiger als Migrations- und Digitalpolitik
93 % der Kommunen sehen im Bürokratieabbau und der Verwaltungsmodernisierung das drängendste Handlungsfeld – noch vor Migration (69 %) und Digitalisierung (40 %). „CDU, CSU und SPD haben sich klar zum Bürokratieabbau bekannt. Jetzt braucht es einen Entbürokratisierungsplan mit konkreten Maßnahmen. Denn ohne funktionierende Verwaltung und wirtschaftliche Dynamik gibt es keine staatliche Handlungsfähigkeit.“
Erwartungen an Bund, Land und Bundesrat
Die Kommunen sprechen sich mehrheitlich dafür aus, dass das Land Baden-Württemberg – wenn nötig – den erweiterten Verschuldungsspielraum von 0,35 % des BIP gezielt zur Stabilisierung der Kommunalfinanzen nutzt. Eine dauerhafte Finanzierung über neue Schulden lehnen sie jedoch ab. Die Erwartung der Städte und Gemeinden fasst Jäger zusammen: „Kurzfristig geht kein Weg an einer Stabilisierung der Kommunalfinanzen vorbei – notfalls auch über Verschuldung. Aber das darf kein Dauerzustand sein. Wir brauchen einen ehrlichen und wahrscheinlich auch schmerzhaften Reformprozess. Jetzt.“
Infrastruktur-Sondervermögen: Vertrauen statt Antragspflicht
Beim Bundes-Sondervermögen für kommunale Infrastruktur (voraussichtlich 13 Milliarden Euro für Baden-Württemberg über 12 Jahre) erwarten die Kommunen eine einfache, pauschale Verteilung ohne enge Zweckbindung. „Die Städte und Gemeinden erkennen die Chance zum Abbau des Sanierungsstaus – etwa in Schulen, Kitas, Brücken, Straßen und weiteren Einrichtungen. Dabei wissen sie selbst am besten, was vor Ort am dringendsten notwendig ist. Jetzt ist der Moment, Vertrauen zu zeigen: Vertraut den Kommunen – und spart euch die Antragsformulare“, appelliert Jäger an Bund und Land.
Ein ehrliches Lagebild – und ein Weckruf
Jäger mahnt: „Dieses Barometer ist mehr als eine Stimmungsabfrage. Es ist ein Weckruf, ein ehrliches Lagebild – und ein Auftrag an alle, die politische Verantwortung tragen. Wir brauchen jetzt eine strukturelle Stärkung der Kommunalfinanzen und eine konsequente Reform der staatlichen Leistungsversprechen. Denn starke Kommunen sind kein Luxus, sie sind das Rückgrat unseres Staatswesens.“
Hintergrund:
An der Umfrage der 1.065 Mitgliedsstädte und -gemeinden im Zeitraum 6. Mai 2025 bis 9. Mai 2025 haben sich 685 Kommunen beteiligt.
Folgende Fragen wurden gestellt:
1a) „Was sollte die neue Bundesregierung aus Sicht Ihrer Kommune als Erstes anpacken?“ (Mehrfachnennung: max. 2 Antworten)
- Kommunalfinanzen stärken (Reform der Finanzverfassung, echte Konnexität, Investitionsfähigkeit wiederherstellen): 558 (81,46 %)
- Politische Entscheidungen wieder stärker auf Umsetzbarkeit vor Ort und verfügbaren Ressourcen ausrichten: 326 (47,59 %)
- Mehr echte kommunale Selbstverwaltung statt neuer Förderprogramme und engere Standards (Weniger Aktionismus, mehr Freiraum für kommunale Lösungen.): 313 (45,69 %)
- Planungs- und Genehmigungsprozesse beschleunigen (Vom Wohnungsbau bis zur Energie- und Wärmewende. Verfahren einfacher und schneller machen.): 134 (19,56 %)
- Andere: 12 (1,75 %)
1b) Welche Themen sollte die neue Bundesregierung aus Sicht Ihrer Kommune als Erstes angehen? (Mehrfachnennung: max. 3 Antworten)
- Bürokratieabbau und Verwaltungsmodernisierung: 638 (93,14 %)
- Migrationspolitik: 474 (69,2 %)
- Digitalisierung: 275 (40,15 %)
- Wohnungsbau: 203 (29,64 %)
- Klimaschutz und Klimawandelanpassung: 93 (13,43 %)
- Andere 52 (7,59 %)
2) Was sind geeignete Instrumente, um den angekündigten Politikwechsel bzw. die Zeitenwende zum Ausdruck zu bringen? (Mehrfachnennung: max. 3 Antworten)
- Fokussierung des Staates auf Kernaufgaben und Daseinsvorsorge: 578 (84,38 %)
- Ehrliche Kommunikation gegenüber den Bürgern („reinen Wein“): 458 (66,86 %)
- Konsolidierung der konsumtiven staatlichen Ausgaben: 408 (59,56 %)
- Hohe Priorität auf Verteidigungsfähigkeit legen: 248 (36,20 %)
- Höhere Wochenarbeitszeit / längere Lebensarbeitszeit: 102 (14,89 %)
- Andere 29 (4,23 %)
- Steuererhöhungen: 12 (1,75 %)
3) Wie dringend ist eine kurzfristige Stabilisierung der Kommunalfinanzen?
- Diese Maßnahme hat höchste Priorität, da ansonsten die kommunale Aufgabenerfüllung gefährdet ist. 559 (81,61 %)
- Diese Maßnahme ist wichtig, da die kommunalen Haushalte langsam in eine Schieflage geraten. 123 (17,96 %)
- Diese Maßnahme ist im Vergleich zu anderen Notwendigkeiten noch nicht prioritär. 2 (0,29 %)
- Die Kommunalfinanzen benötigen keine Stabilisierung. 1 (0,15 %)
4) Soll das Land den durch die Grundgesetzänderung erweiterten Kreditspielraum (0,35 % des BIP) gezielt zur Stabilisierung der Kommunalfinanzen einsetzen?
- Nein - das Land sollte den Kreditspielraum gar nicht nutzen. 48 (7,05 %)
- Ja - dringend notwendig, gerade für die Kommunalfinanzen. 263 (38,62 %)
- Ja - aber zeitlich befristet. Zugleich müssen die strukturellen staatlichen Leistungszusagen reduziert werden. 370 (54,33 %)
5) Wie bewerten Sie die mittelfristige Haushaltslage Ihrer Kommune (2025 - 2027)?
- Stabil. 17 (2,48 %)
- Belastet, aber steuerbar. 166 (24,23 %)
- Kritisch. 344 (50,22 %)
- Eigenständige Handlungsfähigkeit droht zu entfallen. 158 (23,07 %)
6) Was ist aktuell die größte Belastung für Ihren Haushalt?
- Liquiditätsprobleme aus dem investiven Betrieb. 153 (22,70 %)
- Nichtzahlungsrelevante Belastungen (z. B. Abschreibungen). 205 (30,42 %)
- Liquiditätsprobleme aus dem laufenden Betrieb. 316 (46,88 %)
7) Mit was ist bei Ihnen zu rechnen, erfolgen keine maßgeblichen Entlastungen Ihres Haushalts? (Mehrfachnennung: max. 3)
- Andere 41 (6,01 %)
- Schließung von Einrichtungen bzw. Kürzung von Leistungen. 432 (63,34 %)
- Erhöhung von Gebühren, Steuern und Entgelten. 559 (81,96 %)
- Aufschieben von Investitionen. 622 (91,20 %)
8) Ist der bundesgesetzliche Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ab 1. August 2026 aus Ihrer Sicht umsetzbar?
- Ja - vollständig umsetzbar. 23 (3,36 %)
- Ja - bei ausreichender Finanzierung. 220 (32,16 %)
- Nein - nur mit längerer Übergangsfrist. 33 (4,82 %)
- Nein - nur mit längerer Übergangsfrist und ausreichender Finanzierung. 296 (43,27 %)
- Nein - strukturelle Hürden bleiben für eine vollständige Erfüllung zu groß. 112 (16,37 %)
9a) Wie sollte das Sondervermögen des Bundes umgesetzt werden?
- Abwicklung über klassische Förderprogramme. 22 (3,24 %)
- Abwicklung bzw. Auszahlung über kommunale Investitionspauschale (KIP). 233 (34,26 %)
- Abwicklung über pauschale Zuweisung mit schlankem Verwendungsnachweis. 425 (62,50 %)
9b) Welche Investitionen sollten ermöglicht werden?
- Begrenzung auf wenige Verwendungszwecke, um damit bundespolitische Ziele mit gebündelten Mitteln umzusetzen. 86 (12,63 %)
- Keine inhaltlichen Beschränkungen. Die Kommunen wissen am besten, welche Investitionen gerade dringlich sind. 595 (87,37 %)
9c) Welche Ko-Finanzierung halten Sie für leistbar?
- Die Ko-Finanzierung sollte wie in den etablierten Förderprogrammen ausgestaltet sein (z. B. > 10 %) 99 (14,64 %)
- Eine Ko-Finanzierung ist in unserer Stadt/Gemeinde angesichts der Haushaltssituation nicht leistbar. 178 (26,33 %)
- Eine geringe Ko-Finanzierung (z. B. 10 Prozent) ist leistbar und zur Steuerung sinnvoll. 399 (59,02 %)
10) Wo liegen die größten Investitionsbedarfe in Ihrer Kommune? (Mehrfachnennung: max. 3)
- Verwaltungsgebäude 143 (20,91 %)
- Sportstätten 150 (21,93 %)
- Kita 256 (37,43 %)
- Energie- und Wärmewende (z. B. energetische Gebäudesanierung, Wärmenetze) 311 (45,47 %)
- Feuerwehr sowie Zivil- und Katastrophenschutz 323 (47,22 %)
- Schulen 335 (48,98 %)
- Brücken und Straßen 403 (58,92 %)