Die Geschichte des Alten- und Pflegeheims Wildberg beginnt mit Königin Olga und Pfarrer Philipp Paulus. Olga stammte aus Russland und wurde in eine unglückliche Ehe nach Württemberg verheiratet. Pfarrer Philipp Paulus (Ludwigsburg) erkannte, dass ambulante Versorgung von armen und alt gewordenen Menschen zum Beispiel über Sachspenden nicht ausreichte. Es brauchte, so seine Idee, eine Versorgung in einer (stationären) Unterkunft als Antwort auf die fürchterliche soziale Verelendung zahlreicher alter, behinderter und gebrechlicher Menschen Mitte des 19. Jahrhundert, ein „Haus der Barmherzigkeit“, wie er es theologisch formulierte. Mit dieser Idee trat er an die Königin heran, die sein Anliegen zu ihrem machte und der Idee so zum Durchbruch verhalf. Die vollstationäre Altenhilfe in Württemberg war geboren.
Im Dezember 1864 wurde deshalb die kirchliche Stiftung des bürgerlichen Rechts, die heutige Stiftung Altenheime Backnang und Wildberg, als Trägerin des Hauses der Barmherzigkeit in Wildberg, dem heutigen Alten- und Pflegeheim, gegründet. Das Gebäude in Wildberg wurde als geeignet angesehen und gekauft. Im Frühsommer 1865 konnten die ersten Bewohner einziehen, am 9. November 1865 war die offizielle Einweihung. Seither war das Haus immer offen, unabhängig von Kriegen und Pandemien. Beständigkeit zeichnet die Einrichtung aus, auf allen Ebenen. Ulrich Lutz leitet das Heim seit nunmehr 30 Jahren und ist erst die sechste Person in dieser Position – den ersten Heimleiter, der nach kurzer Zeit die Stelle wechselte, nicht eingerechnet. Zusammen mit ihm feierten im Januar zahlreiche langjährige Mitarbeiter Jubiläen, manche gehören dem Team der Einrichtung seit zehn Jahren an, andere sind bereits seit über 30 Jahren dabei. „Dieses Haus hat immer davon gelebt, dass Menschen lange da waren“, fasst Ulrich Lutz zusammen. Als er 1994 mit seinem Vorgänger sprach, sagte ihm dieser, eine solche Tätigkeit sei auf zehn Jahre ausgelegt. „Jetzt sind es halt drei Mal zehn geworden“, scherzt Lutz.
„Ohne die Migrantin Königin Olga wäre unser Heim nie entstanden“, blickt Ulrich Lutz auf die Anfänge zurück. Heute sind Mitarbeiter mit Migrationshintergrund unverzichtbarer Teil der Heimgemeinschaft. Sie machen mehr als 50 Prozent der Mitarbeiterschaft aus. Vor 30 Jahren wohnten rund 100 Bewohner im Alten- und Pflegeheim Wildberg, rund 100 Mitarbeiter kümmerten sich um sie. Heute sind es vier vollstationäre Einrichtungen, die Diakoniestation als ambulanter Dienst und eine Tagespflege. In allen zusammen arbeiten 320 Mitarbeiter.„Dabei sind wir nicht mal auf Expansion aus“, stellt Ulrich Lutz klar. Man habe lediglich in den umliegenden Kommunen, die ihre Senioren bislang nach Wildberg brachten, dezentrale Angebote aufgebaut. „Zusätzlich wurden die Personalschlüssel mehrfach erhöht, was sehr wichtig und notwendig war“, erklärt Ulrich Lutz. Aufgrund des demographischen Wandels sei die Angebotsvielfalt enorm gewachsen – ebenso die Anzahl der Mitarbeiter. „Das wird sich weiter fortsetzen. Es ist also nicht nur das Problem der kleineren Jahrgänge der heutigen jungen Generation, sondern auch der weit höhere Bedarf.“ In Deutschland gebe es nicht genug Fachkräfte, um das zu leisten. Als Ulrich Lutz vor über 30 Jahren seine Ausbildung am Herrenberger Krankenhaus absolvierte, habe er noch rund eineinhalb Jahre auf einen Platz warten müssen, 20 Mitschüler seien in seinem Jahrgang gewesen. Schon zur Zeit seines Sohnes, der dieselbe Ausbildung machte, ebenfalls in Herrenberg, waren es nur noch drei. Das Alten- und Pflegeheim in Wildberg habe vor fünf Jahren noch 17 Azubis unterrichtet, heute sind es nur noch zwölf. Ohne Menschen mit Migrationshintergrund, die sich in der Pflege engagieren, hätte man noch viel größere Probleme, Personal zu finden.
Nach so vielen Jahrzehnten im Beruf hat sich Ulrich Lutz angesichts dieser Herausforderungen aber dennoch ein Lächeln bewahrt. Schon immer habe es Hürden in diesem Berufsfeld gegeben, zum Teil noch viel größere als Personalmangel. Im ersten Weltkrieg seien die Lebensmittel so knapp gewesen, dass nur eine Spende der Kirchengemeinde Zwerenberg, eingesammelt bei örtlichen Landwirten, dem Heim habe über die schwere Zeit helfen können. Daraus entstand die schöne Tradition, dass bis heute Kirchengemeinden aus der Nähe zu Erntedank etwas an die Einrichtung schicken. Eine „kleine Katastrophe“ war für Ulrich Lutz jedoch die Corona-Pandemie. Währenddessen habe man sich in dem steten Spannungsfeld bewegt, den Bewohnern Freiheiten und soziale Kontakte zu ermöglichen, aber auch Ausbrüche zu verhindern, die unmittelbar den Personalschlüssel auf ein gefährliches Minimum reduzierten. „Wir sind hier fast kaputt gegangen vor lauter Arbeit“, erinnert sich Ulrich Lutz. Man habe aber auch gelernt: „Wir überstehen solche Krisen und sie gehen
vorüber.“
Generell ist der Konflikt zwischen individueller Freiheit und Sicherheit nicht neu. „In einem guten Heim stürzen Menschen auch mal“, formuliert er es absichtlich provokativ. Man wolle den Senioren möglichst lange möglichst viel Selbstständigkeit zugestehen, ein würdevolles, eigenverantwortliches Leben. Stürze ließen sich nur verhindern, wenn man die Menschen – überspitzt gesagt – am Bett festbinde. „Auch ältere Menschen sind noch trainierbar“, weiß er aus Erfahrung. Will heißen: Bewegung ist einer von drei Faktoren, mit denen man selbst zu einem langen, selbstbestimmten Leben beitragen kann. Die beiden anderen sind ein gesundes Körpergewicht und die Vermeidung des Altersstarrsinns.
Die Entscheidung, einen geliebten Menschen in ein Heim zu bringen, fällt den meisten Angehörigen schwer, weiß Ulrich Lutz. Oft geht dem Heimaufenthalt eine lange Zeit der ambulanten Pflege voraus. „Niemand schiebt einfach jemand ab.“ Erkrankungen wie Demenz, Parkinson oder ein Schlaganfall können es nahezu unmöglich machen, jemanden noch zuhause zu pflegen. Ganz abgesehen davon, was Angehörige alles aufgeben und leisten, um sich um ihre Liebsten zu kümmern. In solchen Fällen sei ein Heim die stabilste und preisgünstigste Lösung für eine 24/7-Betreuung – trotz allem, was besser sein könnte. Dennoch: Ohne privates Engagement in Sachen Pflege gehe es nicht. „Wir können nie und nimmer alle versorgen“, ist sich Ulrich Lutz bewusst. „Über 80 Prozent pflegebedürftiger Personen werden noch immer zuhause betreut.“
Im Lauf der Jahre habe die Politik immer wieder (kleine) Veränderungen in die Wege geleitet, die in Summe doch einen großen Unterschied machen. Ganz vorne dabei ist für Ulrich Lutz die Landesheimbauverordnung, die Bewohnern ein Einzelzimmer sichert. „Die Doppelzimmer waren lange ein Problem und ein brachialer Eingriff in die Privatsphäre der Bewohner“, findet Lutz. Deshalb habe das Heim in Wildberg frühzeitig umgebaut und einen Anbau realisiert, dankenswerter Weise ermöglicht durch eine große Erbschaft. Man müsse auch in Heimenn den Blick immer nach vorne richten, auch wenn man so eine lange Tradition im Rücken hat wie die Wildberger Einrichtung. 2012 schaute man sich den Stromverbrauch an, der in der Folge in zehn Jahren halbiert werden konnte, bei der Heizenergie konnte ein Drittel eingespart werden. Derartige Kostenreduzierungen sind Ulrich Lutz ein großes Anliegen. Denn die finanzielle Last für die Versorgung älterer Menschen trägt die jüngere Generation. „Wir können uns nicht nur auf den Staat verlassen“, ist er überzeugt. „Wir müssen uns eigene Gedanken machen und uns früher vernetzen.“ Er denkt beispielsweise an die Gründung von selbstbestimmten Wohngemeinschaften für Senioren vor der Pflegebedüftigkeit. Das würde Wohnraum zur Verfügung stellen, die Wohnkosten für ältere Menschen reduzieren und es ermöglichen, dass sie sich gegenseitig unter die Arme greifen bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Privatsphäre – was es länger ermöglicht, alleine zu leben.
Ulrich Lutz lebt für seinen Beruf und hat sich nach seinem Zivildienst ganz bewusst dafür entschieden, auch wenn der Weg bis zur Heimleitung noch ein paar Jahre dauern sollte. Dennoch stellt er fest, dass er ein psychisch belastendes Feld gewählt hat. „Auf mir lasten sehr viele Pflegeversprechen“, erklärt er die große Verantwortung in seiner Position. „Das verursacht mir manchmal schlaflose Nächtse.“ Nicht wenige seiner Kollegen hätten auf den Stress und die Belastung mit gesundheitlichen Schäden reagiert. Was ihn seit 30 Jahren antreibt, ist eine Frage: „Wie schaffen wir es, dass die letzte Wegstrecke der Menschen noch Lebensqualität bietet?“ Einem Zitat seiner Mutter zufolge, die bis zu ihrem Tod ebenfalls eine seiner Bewohnerinnen war, hat Ulrich Lutz die Antwort gefunden: „Hier kann man selig sterben.“ Nach wie vor empfindet Ulrich Lutz seine Arbeit als unglaublich wertschöpfend. „Das Schönste ist für mich die Begegnung mit älteren Menschen. Es gibt unheimlich viele interessante Lebensgeschichten, an denen ich teilhaben durfte. Es ist faszinierend, davon noch etwas mitzubekommen. Das ist der größte Reichtum, die größte Bereicherung.“ Für Ulrich Lutz ist ganz klar: „Alte Menschen sind ein großer Schatz für eine Gesellschaft.“
Am Sonntag, 25. Mai, ab 10 Uhr lädt das Alten- und Pflegeheim Wildberg zu einem Tag der offenen Tür ein. Am exakten Eröffnungsdatum (Sonntag, 9. November) findet ein „Geburtstagsfest“ für die Öffentlichkeit statt. Außerdem ist ein Fachvortrag in Planung, auch eine Abendveranstaltung für die Bewohner wird es geben.