Die Schüler, die dieser Tage das Wasser des neuen Trinkbrunnens am Urbanbrunnen vor dem Alten Rathaus genossen, haben sicher nicht an den griechischen Dichter Pindar gedacht. Wir nehmen das Privileg jederzeit unbegrenzt verfügbaren sauberen Wassers als selbstverständlich.
Bis zum Jahre 1903 mussten die Gerlinger ihr Wasser aus den zahlreichen Brunnen in Eimern holen. Doch die Schüttung der Brunnen war in trockenen Jahren kaum ausreichend. Noch 1902 wurde im Gemeinderat festgestellt, dass das Wasser der beiden Brunnen im oberen Ortsteil so hart sei, dass es „zu gewerblichen und Haushaltszwecken unbrauchbar ist und der gesamte obere Ortsteil genötigt ist, das Wasser zu diesen Zwecken vom Urbanbrunnen teilweise sehr weit weg zu beziehen.“ 1903 wurde eine Wasserleitung eingerichtet. Bei der heutigen Pestalozzi-Schule wurde ein 6 m tiefer und 130 m langer Sickerungsgraben gezogen. Mit Kosten von 85.000 Mark wurde eine Pumpstation an der Hasenbergstraße sowie ein Hochreservoir an der Panoramastraße gebaut und gusseiserne Rohre verlegt, die zumindest bis in die 80er-Jahre noch teilweise in Betrieb waren.
Der Wasserverbrauch allerdings stieg erheblich. Entsprechend stieg auch der Anfall von Schmutzwasser, welches komplett in die Straßenkandel abfloss, die oft nicht mehr imstande war, diese Mengen abzuführen, wie im Gemeinderat am 23. März 1909 beklagt wurde. Man mag sich nicht vorstellen, wie unsere Hauptstraße mit den zahlreichen flankierenden Misthaufen und offenen Abwassergräben bis Anfang der 50er-Jahre ausgesehen und gerochen hat. Die schon 1909 als zwingend notwendig erkannte Kanalisation wurde allerdings erst ab 1952 gebaut, vor allem dank der Ausgleichszahlung der Stadt Stuttgart für den Verbleib der Solitude bei der Landeshauptstadt.
Doch trotz des 1947 auf der Höhe erstellten Wasserturms mit einem Wasserspiegel von 524 m über NN und einer neuen Brunnenbohrung im Gebiet Hausen blieb die Wasserqualität schlecht und der Wasserbedarf der rasant wachsenden Gemeinde konnte in trockenen Jahren nicht gedeckt werden. Nachdem 1956 die Schüttung des Tiefbrunnens Hausen auf die Hälfte zurückgegangen war, wurde im Gemeinderat der Widerstand gegen den teuren Anschluss an die seit 1954 verfügbare Bodenseewasserversorgung aufgegeben und Ende 1958 wurden die Verbindungsleitungen zur Bodenseewasserversorgung fertiggestellt. Schon 1960 später wurde die gesamte Wasserversorgung aus dem Bodensee bezogen, da die Vermischung mit eigengefördertem Wasser und die Belieferung der Stadtteile mit unterschiedlicher Wasserqualität nicht mehr akzeptabel erschien. Die Beteiligungsquote von zunächst nur 20 l/sec stieg schnell und ist inzwischen auf ein Vielfaches gestiegen. Wir hoffen trotz Muschelbefall im Bodensee und Gletscherschmelze auf eine sichere Versorgung auch der kommenden Generationen.
In Kenntnis der Historie sollten wir jeden Schluck unseres Leitungswassers genießen, zumal dessen Reinheitsvorgaben sehr viel strikter sind als für Mineralwässer, die überdies oft wenig umweltverträglich in Flaschen ohne Pfand über hunderte Kilometer zu uns transportiert werden.
Jürgen Wöhler
www.heimatpflegeverein-gerlingen.de