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Der blinde Pierre Heim läuft 100 km in der Schweiz

Der 100-Kilometer-Lauf im schweizerischen Biel ist ein Erlebnis der besonderen Art. Wer einmal an dieser traditionsreichen Laufveranstaltung teilgenommen...
Das LIWA-Lauftandem Trio Dani, Pierre und Kalle im Ziel nach 100km
Das LIWA-Lauftandem Trio Dani, Pierre und Kalle im Ziel nach 100kmFoto: TSV Lichtenwald

Der 100-Kilometer-Lauf im schweizerischen Biel ist ein Erlebnis der besonderen Art. Wer einmal an dieser traditionsreichen Laufveranstaltung teilgenommen hat, wird diese Nacht nicht so schnell wieder vergessen. Es ist selbst für viele erprobte Marathonläufer eine gewaltige körperliche und mentale Herausforderung, eine solche Distanz am Stück zurückzulegen.
Fast jährlich ist jemand vom LIWA-LaufTreff so weit, sich diesen besonderen 100 Kilometern stellen zu wollen. Am vergangenen Pfingstwochenende waren es Petra und Jens Jaeger, Martin Dunker, Bernhard Bucher und unser blindes Lauftreff-Mitglied Pierre Heim. Während die Entscheidung bei den anderen bereits vor Monaten gereift war, traf Pierre die Entscheidung erst 2 Wochen vor dem Termin. Eine sehr mutige Entscheidung. Natürlich konnte Pierre sich nicht alleine dafür anmelden, er braucht ja mindestens einen Führungsläufer an seiner Seite. Mit Daniel Guggenmos und Karlheinz Dravec stellten sich gleich zwei sehr erfahrene Biel-Läufer als Guides zur Verfügung, denen er letztlich vollständig vertrauen musste. Eine sehr große Aufgabe für die beiden, denn Dani war aufgrund der Kurzfristigkeit eigentlich selbst gar nicht für diese Distanz vorbereitet und Kalle hatte noch den Albtraum100 aus der Vorwoche in den Beinen.
Der Start an der Tissot Arena in Biel erfolgte am Freitag um 22:00 Uhr. Für die 100-km-Distanz waren etwas mehr als 1.000 Teilnehmer gemeldet. Inklusive Staffeln, Militärwettbewerb und kürzeren Distanzen waren 4.700 Läuferinnen und Läufer unterwegs. Die Anspannung bei Pierre war hoch. Schon kurz nach dem Start wurde das Wetter zunehmend ungemütlicher. Gewitter und Dauerregen sorgten für nasse Straßen und für tief durchweichte, mit Pfützen übersäte Feldwege. Das war schon für alle sehenden Läufer eine Herausforderung. Die Dunkelheit, die Nässe, die vielen grellen Lichter der Stirnlampen und die ungewohnte Geräuschkulisse waren für Pierre etwas irritierend und für die Guides eine Herausforderung an die Konzentration. Jeder Schritt musste gut vorbereitet und schon weit im Voraus durchdacht werden. Die Verantwortung ist groß. Dani und Kalle wechselten sich in der Führung von Pierre nach jedem Verpflegungspunkt ab. Es dauerte lange, bis sich das Feld so weit auseinandergezogen hatte, dass man einigermaßen Ruhe um sich herum hatte. Pierre hatte sich zwar schnell auf die wechselnden Bodenbeschaffenheiten eingestellt und ein gutes Gespür dafür, was um ihn herum so passierte, doch die dafür erforderliche Konzentration zog auch Energie aus dem mittlerweile völlig durchnässten Körper. Schon nach gut einem Drittel der Distanz machten sich erste Ermüdungserscheinungen bemerkbar. Die erste Leidenszeit begann. Die Pausen an den Verpflegungsstellen wurden länger. Da durch die nasse Kleidung eine schnelle Auskühlung drohte, versuchten Dani und Kalle immer wieder, Pierre zum raschen Wiederanlaufen zu motivieren. Doch Pierre nutzte die Pausen überwiegend dazu, um ausreichend zu essen und zu trinken und das war enorm wichtig für den weiteren Verlauf.
Nach ziemlich genau 7 Stunden Laufzeit hatte man KM 50, also die Hälfte der Strecke, passiert. Ab jetzt waren mit jedem Schritt weniger Meter zu laufen, als man schon in den Beinen hatte. Zudem wurde es auch trotz der dunklen Wolkendecke zunehmend heller, was das Vorausschauen beim guiden etwas einfacher machte. Das tat der Seele gut. Dennoch wurden die äußeren Bedingungen nicht wirklich besser. Die Wege waren weiterhin tief durchnässt, matschig und durch den Dreck auch rutschig. Besonders schwierig waren Passagen, in denen eigentlich nur Platz für ein Fußpaar war. Die Belastung war nicht nur Pierre anzumerken, auch Dani und Kalle spürten mittlerweile die gelaufenen Kilometer in der Muskulatur. Die permanent durchnässten Schuhe und Socken sorgten zudem für ein eher unangenehmes Trittgefühl. Die Beine wurden immer schwerer. Jeder noch so kurze Anstieg musste jetzt gegangen werden. Die Leidenszeit verstärkte sich. Es wurde zur reinen Kopfsache, für alle drei. Aber trotz aller körperlicher Leiden schaffte es Pierre auch immer wieder, auf den flacheren Abschnitten in einen längeren Laufrhythmus zu finden. Dank der unermüdlichen Arbeit und vieler motivierender Worte von Dani und Kalle ließ Pierre sich vollkommen auf seine beiden Führungsläufer ein und kämpfte sich Schritt für Schritt weiter. KM 80 – 85 - 90, die Ankunft bei jeder dieser Streckenmarkierungen wurde innerlich regelrecht gefeiert, denn je höher die Zahl wurde, umso größer die Sicherheit, dass man es schaffen würde. Die letzten 8 Kilometer waren nochmal sehr wellig. Laufen, solange es ging, gehen bis es wieder lief. Ein stetiges auf und ab. Dann der letzte Verpflegungspunkt bei km 95. Pierre gönnte sich nochmal die volle Ladung an Energiezufuhr. Danach wollten man es nur noch zu Ende bringen.

Bei km 99 musste noch ein traditionelles Foto geschossen werden. Ab hier waren auch schon die Lautsprecherdurchsagen aus dem Zielbereich zu hören. Das setzte dann auch noch die allerletzten verbliebenen Energiekörnchen in Wallung. Der Zieleinlauf zu dritt nebeneinander unter viel Beifall von der gut gefüllten Tribüne war ein Genuss. Geschafft! Erleichterung! Umarmung! Entspannung! Die Finisher-Medaille um den Hals! 100 (in Worten: einhundert) Kilometer blind durch die Schweiz! Auch danach noch unvorstellbar. Nur wer selbst einmal die Höhen und Tiefen über Dauer eines solchen Laufes durchlebt hat, kann begreifen, welche Glückseligkeit einem beim Zieleinlauf durch den ausgelaugten Körper fährt.
Mit einer Gesamtlaufzeit von nur 14:23:27 Stunden platzieren sich die Drei auf den Rängen 360, 361, 362 und damit sogar in der vorderen Hälfte aller Finisher. Auf der Strecke gab es nur wenige der anderen Teilnehmer, Helfer oder Zuschauer, denen es aufgefallen ist, dass hier ein blinder Läufer mit unterwegs war. Man kann diese Leistung und die damit verbundene Willenskraft von Pierre kaum in Worte fassen. Die Schmerzen werden vergehen, doch der Stolz bleibt für immer. Ein ganz großes Ausrufezeichen für Inklusion im Sport.

Doch auch die weiteren LIWA-Läufer hatten mit den 100 Kilometern und den widrigen Bedingungen zu kämpfen. Und auch deren Leistungen waren sehr beeindruckend. Am besten kam Martin Dunker durch die Strecke. Er lief bei seiner ersten Teilnahme mit 9:56:49 Stunden direkt unter die 10-Stunden-Marke und mit Platz 59 deutlich in den Top 100. Für Jens Jaeger war es der erste „Hunderter“ überhaupt. Er benötigte dafür nur 12:32:50 Stunden (Platz 227), seine Frau Petra kam kurz danach mit 12:58:35 Stunden als 28. aller Frauen im Ziel an. Bernhard Bucher musste seinen Lauf leider schon nach 20 Kilometern aufgrund von Knieproblemen beenden.
Glückwunsch an alle 6 Lichtenwalder und ganz besonders an Pierre und Jens zu ihrer 100-Kilometer-Premiere. Ihr habt den LIWA-LaufTreff mal wieder über die Grenzen hinaus erfolgreich präsentiert.

Pierre bei Kilometer 99 - das Lächeln unbezahlbar!
Pierre bei Kilometer 99 - das Lächeln unbezahlbar!Foto: TSV Lichtenwald
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