Das Stadtarchiv Reutlingen erinnert derzeit mit einer kleinen Vitrinenausstellung an Paul Sinner, einen der wichtigsten frühen Fotografen Württembergs. Ihm verdanken wir Stadtansichten aus dem 19. Jahrhundert, Bilder des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 und jede Menge Trachtenbilder. König Karl von Württemberg verlieh ihm 1868 eine „Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft“ des Königreichs. 1873 stellte er auf der Weltausstellung in Wien aus.
Paul Sinner wurde am 17. Juli 1838 in Ludwigsburg geboren – zu der Zeit wurde in England und Frankreich die Fotografie erfunden. Er schloss eine Bäckerlehre ab, arbeitete nach seiner Wanderschaft jedoch als Schlosser in Esslingen. Ein Arbeitsunfall führte zu seiner beruflichen Neuorientierung als Fotograf in Stuttgart. Nach der Hochzeit mit Wilhelmine Kienle zog das Paar 1864 nach Tübingen, wo Sinner sich als Fotograf selbstständig machte. Paul Sinner starb am 30. März 1925 in Tübingen.
Sinner wurde auf eigene Initiative zu einem der frühen Fotografen im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71; er fotografierte allerdings nicht während der Kampfhandlungen, sondern die Kriegsfolgen für Landschaften und Städte und arrangierte Genreszenen. Solches Fotografieren außerhalb des Ateliers war handwerklich anspruchsvoll, da es noch kein industriell gefertigtes Aufnahmematerial zu kaufen gab. Die fotografischen Platten mussten im Dunkeln kurz vor der Aufnahme beschichtet, im noch feuchten Zustand belichtet und sofort entwickelt werden. Sinner hatte sich dafür eine mobile Dunkelkammer in einer Pferdekutsche eingerichtet.
Industrialisierung und Eisenbahn veränderten auch das Leben auf dem Land grundlegend. Folkloristische „Wohlfühlbilder“, die die vermeintlich idyllische heile Welt von „früher“ heraufbeschworen, kamen da gerade recht. Paul Sinner beförderte dieses Bedürfnis mit seinen inszenierten und häufig stark retuschierten schwäbischen Trachtenbildern, die er als Einzelbilder und Postkarten vertrieb. Betzingen war einer der Schwerpunkte dieser Arbeit.
Über viele Jahre fertigte Paul Sinner überdies Aufnahmen historisch und kulturell wichtiger Gebäude und Kunstgegenstände an, die er von 1876 bis 1915 thematisch gegliedert in Mappen veröffentlichte. Bei der Auswahl unterstützte ihn ein Expertengremium. So ist ein Inventar wesentlicher Kunstwerke Württembergs und Hohenzollerns entstanden. Das Spektrum ist breit und reicht von Gebäudeansichten und Details von Kirchen, Klöstern, Burgen und Schlössern über Abbildungen von Denk- und Grabmalen bis zu Stadtansichten und Bildern kunsthandwerklicher Gegenstände.
Die Ausstellung zeigt bis Ende Juni Sinner-Aufnahmen zu den Themen „Bilder aus dem Krieg“, „Trachtenbilder“ sowie „Gebäude und Artefakte“. Die Ausstellung ist während der Öffnungszeiten des Rathauses im EG zugänglich.
Am Montag, 26. Mai, gibt es außerdem die Möglichkeit, seltene Originalabzüge von Paul Sinner im Lesesaal des Stadtarchivs zu betrachten. Dabei erläutert der Ausstellungsgestalter und Fotograf Martin Frech die frühe Fotogeschichte und handwerkliche Aspekte der damaligen Fotografie. Die Veranstaltung beginnt um 14:00 Uhr im Lesesaal des Stadtarchivs (Zimmer 23 im EG des Rathauses) und ist kostenfrei. Um Anmeldung wird gebeten (Tel. 07121/303-2386, per E-Mail stadtarchiv@reutlingen.de).