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Der Kartoffelplattenspieler

Der Kartoffelplattenspieler Jedes mal, wenn ich im Nachbarort einen Besuch bei meiner BekanntenErika machte, wunderte ich mich über den alten, schwarzen...
Kartoffelernte für einen Plattenspieler
Kartoffelernte für einen PlattenspielerFoto: Gudrun Schultheiss

Der Kartoffelplattenspieler

Jedes mal, wenn ich im Nachbarort einen Besuch bei meiner BekanntenErika machte, wunderte ich mich über den alten, schwarzen Plattenspieler aus den sechziger Jahren. Mir war es ein Rätsel, warum dieses unschöne Stück den schönsten Platz in ihrem Wohnzimmer einnehmen durfte. Erika war doch sonst so modern eingestellt und duldete keine ausgedienten Gegenstände in ihrem Hause. Neulich blieb ich wieder vor dem Gerät stehen und probierte gelangweilt die verschiedenen Knöpfe und Schalter aus.

"Es wird schon lange nicht mehr auf ihm gespielt”, erwähnte meine Bekannte mit einem geheimnisvollen Lächeln im Gesicht.

Ahnungslos wie ich war, überschüttete ich sie mit gut gemeinten Ratschlägen wie: "Geb ihn doch zum Sperrmüll oder setze eine Anzeige in der Zeitung auf und verschenke ihn. Warum lässt du so einen Gruscht hier herumstehen?”

Fassungslos, fast wütend, schaute mir Erika ins Gesicht. "Hör mal, dieser Gruscht, wie du ihn nennst, ist genauso viel wert wie 3650 Tüten Kartoffeln!"

Nun verstand ich überhaupt nichts mehr und Erika bekam Mitleid mit meinem fragenden Blick.

"Hast du ein wenig Zeit, dann erzähle ich dir bei einer Tasse Tee von der Besonderheit dieses ausgedienten Musikgerätes". Sie strahlte mit ihren 50 Jahren wie ein junges Mädchen, das bereit war, ein lange gehütetes Geheimnis zu lüften. Dann lehnte sie sich zurück und begann mir aus ihrer Kindheit in den 60-er Jahren zu erzählen:

"Als 15-jähriges Mädchen half ich meinen Eltern jeden Sommer bei der Kartoffelernte. Damals gab es noch keine Vollerntemaschinen, die Kartoffeln mussten mühsam von Hand aufgelesen werden und die Sonne brannte oftmals unbarmherzig auf uns herab und machte die Arbeit recht schwer. Mein Vater sah die Mühe und versprach meiner fünf Jahre jüngeren Schwester und mir einen lohnenden Anreiz für unsere Mithilfe. Er gab uns je ein "Zehnerle" (10 Pfennig Stück) für jede braune Papiertüte, die wir mit Kartoffeln gefüllt am Ackerrand abstellten. Jede volle Tüte wog fünf Kilogramm, ein beachtliches Gewicht für uns zartgliedrige Mädchen. Vaters Idee gefiel mir sofort. Neu motiviert machte ich mich an die Arbeit, während meine jüngere Schwester viel lieber den Mäusen nachschaute, die von Loch zu Loch schlüpften und aufgeregte Piepstöne von sich gaben. Ich dagegen behielt bis zum Abend voll konzentriert die Anzahl meiner gefüllten Papiertüten im Kopf. Wenn ich ganz fleißig war, dann kamen schon 36 bis 40 Stück pro Tag zustande.

Beim Nachtessen gab mir mein Vater 3,60 DM abgezählt auf die Hand. Ich hortete meinen Verdienst ganz sorgsam in einem leeren WECK- Eindünstglas. Täglich konnte ich meinen Pfennigberg darin wachsen sehen, und war stolz auf meine Leistung. Meine Schwester war weniger ehrgeizig, sie gab ihr verdientes Geld oft gleich wieder für Eis, Schokolade oder Spielzeug aus.

In der Zwischenzeit wuchs in mir mehr und mehr der Wunsch nach einer Schallplatte von meinem Lieblingssänger und dem dazugehörigen Plattenspieler. Meine Eltern konnten mir zu der Zeit keinen kaufen und waren auch darauf bedacht, dass wir Kinder den Wert eines 10 Pfennig Stückes und die damit verbundene Arbeit kennen sowie schätzen lernten.

Als sich der Sommer seinem Ende zuneigte und der Blätterwald bereits eine bunte Färbung zeigte, war mein Münzen - Sammelglas fast bis zum Rande gefüllt.

An einem Regentag ging mein Vater mit mir in ein Fachgeschäft in der nahegelegenen Stadt. Wir schauten gemeinsam, wie teuer wohl ein guter Plattenspieler ist.

365,00 DM sagte der Verkäufer, der plötzlich hinter uns stand. Er hatte bemerkt, dass wir vor einem Gerät stehen blieben und Interesse zeigten.

Oh je, so viel Geld dachte ich und war in Gedanken bei meinem WECK - Glas das zuhause auf dem Nachttisch stand.

Am selben Abend machte ich Kassensturz und kippte mit lautem Krach meine gesammelten "Zehnerle" auf den Küchentisch. Die ganze Familie half gespannt beim Zählen. Am Ende saßen 355 Geldtürmchen, bestehend aus je zehn Münzen vor uns auf dem Tisch. In Sekunden schnelle begriff ich, dass mir noch genau 10,00 DM fehlten zu meinem Glück. Nochmals 100 Tüten Kartoffeln auflesen, kam es leise von meinen Lippen. Ich weiß bis heute nicht, ob mein Vater den dazugehörigen Stöhner gehört hatte. Jedenfalls glaubte ich zu träumen, als er mich anschaute und sagte: "Den Rest des Geldes, den schenk ich dir. Gleich morgen gehen wir in die Stadt und holen deinen Plattenspieler."

Wie einen kostbaren Schatz, hielt ich einen Tag später das Ergebnis von vielen, harten Arbeitstagen in meinen Händen. Glückselig stellte ich das Gerät in meinem Zimmer auf.

Meine Patentante, die von dem Kauf erfuhr, schenkte mir die erste Single Schallplatte dazu.

Ich hütete meine wertvolle Errungenschaft und ließ sie kaum aus den Augen. Niemand durfte ohne meine Erlaubnis und mein Beisein Musik hören. Einen ganzen Sommer Freizeitverzicht hatte mich doch dieses Gerät gekostet.

Erika beendete ihre Erzählung mit dem Satz: "Eigentlich ist es schade, dass es heute so etwas nicht mehr gibt."

Tief beeindruckt hatte ich ihr die ganze Zeit zugehört und bin dabei recht still und nachdenklich geworden. Wie selbstverständlich nehmen heutzutage unsere Kinder ihre Geschenke entgegen. Auch außerhalb von Geburts- und Festtagen werden sie reichlich damit überhäuft. Und wie unachtsam wird mit all dem Spielzeug umgegangen, das sich in so manchem Kinderzimmer auftürmt. Es gibt oftmals keine Wertschätzung mehr.

Erika riss mich wieder aus meinen Gedanken. "Na, wie hat dir meine Geschichte gefallen?", fragte sie neugierig.

"Du darfst deinen Plattenspieler für nichts auf der Welt hergeben", gab ich ihr zur Antwort und verabschiedete mich mit einem warmen, verständnisvollen Händedruck.

Gudrun Schultheiss – eine Geschichte aus ihrem 2007 erschienenen Buch “Der Kartoffelplattenspieler”

Erscheinung
Stadtnachrichten – Amtsblatt der Stadt Rutesheim
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Ausgabe 38/2025
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