In der ersten Pfingstwoche ist es so weit: wir – 8 Betreuer*innen aus Kiebingen – fahren mit Jugendlichen aus Kiebingen und Umgebung nach Lion-sur-Mer. Gefördert wird diese Fahrt auch vom Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW). Das Ziel ist es vom DFJW, Jugendlichen aus Frankreich und Deutschland die Möglichkeit zu bieten, sich auszutauschen, die verschiedenen Lebensstile kennenzulernen und das Gemeinschaftsgefühl für Europa zu stärken. Im Vordergrund steht nicht die Sprache, nein, man soll verstehen, dass es auch ohne geht. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich zu verständigen. Klar, in der heutigen Zeit geht es auch mit verschiedenen Übersetzungsapps, aber es geht auch mit Händen, Füßen und der Gestik. ABER, es geht auch mit Musik. Dies haben die Jugendlichen vom Paulus-Chor bereits 1969 herausgefunden.
Fritz Weiß war einer von Ihnen. Er hat bei dem Gedenkgottesdienst für Emma Flambard nur ein Teil der Geschichte niedergeschrieben und vorgetragen.
Für uns hat er sie nochmal zusammengefasst:
Der damalige Chorleiter und Gründer des Chores, Pfarrer Karl Rupp, hatte Ende der Sechzigerjahre Kontakte mit Lion-sur-Mer geknüpft.
Emma Flambard stammte aus Tübingen und dort hatte sie immer noch eine gute Beziehung zum Tübinger Jugendclub. Auf Einladung von Emma Flambard besuchte der Tübinger Jugendclub schon 1968 den Ort in der Normandie.
Sie kamen durch Sport und Spiel mit den dortigen Bewohnern bei sportlichen Wettkämpfen, z.B. Fußballspielen, zusammen.
Pfarrer Karl Rupp kannte Emma Flambard durch den Tübinger Jugendclub, denn er war in den sechziger Jahren für dessen Betreuung zuständig. Er bot ihr an, mit den damaligen „Pauluschorknaben“ sie in Lion-sur-Mer zu besuchen und auch Konzerte zu geben. So kam es, dass im Juli 1969 die Pauluschorknaben sich zu einer Fahrt in die Normandie, nach Lion-sur-Mer, aufmachten. Mit dabei war auch der damalige Bürgermeister Eugen Raidt.
Man reiste mit gemischten Gefühlen: „Was wird uns dort erwarten“? Wir waren die erste Gruppe mit musikalischen Vorträgen. Man hatte uns auf die Fahrt von zu Hause mitgegeben, nicht aufzufallen, denn man wusste nicht, wie die Bewohner auf eine Gruppe aus Deutschland reagieren würden.
Lion-sur-Mer ist auch eine Ortschaft in der Normandie, an der man sich an den D-Day vom 6. Juni 1944 erinnert, als die alliierten Truppen in der Normandie landeten.
Wir wurden mit ziemlicher Verspätung von Emma Flambard und einigen Bewohnern freundlich empfangen. Die Hinfahrt war sehr nervig. Es herrschte sehr viel Nebel und der Bus kam nur langsam voran. Eugen Raidt musste immer wieder mit Kommandos dem Busfahrer helfen.
Wir wurden dann im Nachbarort Luc-sur-Mer, ziemlich abgeschirmt, in einer Schule untergebracht. Die Bevölkerung hat auch reserviert reagiert. Der Pfarrer von Luc-sur-Mer war von deutschen Soldaten schwer misshandelt worden und das hatten die Bewohner nicht vergessen.
Trotzdem probten wir eifrig, denn wir hatten in der Kirche in Lion-sur-Mer ein Konzert zu geben.
Eines Morgens waren wir sehr erschreckt. An die Mauer unseres Quartiers war ein Hakenkreuz gemalt. Das hat uns sehr betroffen gemacht und keiner hat sich mehr im Ort richtig rausgetraut. Das war schon ein komisches Gefühl. Sollten wir dies alles noch zu spüren bekommen.
Unser erstes Konzert war in der Kirche unseres Gastgeberortes Lion-sur-Mer.
Überall hingen Plakate:
EGLISE de LION-SUR-MER
Mercredi 30 Juillet 969
Les Petits Chanteurs
De KIEBINGEN
Chantent MOZART. BACH
ENTREE GRATUITE
Das Konzert war ein voller Erfolg, unsere Musik hatte etwas Gutes bewirkt.
Auch der Pfarrer von Luc-sur-Mer war dabei und der meinte, dass wir auch bei ihm in Luc singen sollten.
So kam es, dass wir auch in Luc-sur-Mer ein Konzert gaben. Wir wussten nicht, was uns dort erwartet, nach den Schmierereien an der Wand unseres Quartiers. Es war schon ein mulmiges Gefühl.
So standen wir vor der Kirche in unseren weißen Kutten. War überhaupt jemand in der Kirche, um uns zu hören?
Die Kirchentüren wurden geöffnet und wir zogen in die Kirchen ein. Wir waren überwältigt, die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Es lief uns kalt den Rücken runter. Mit dem hatten wir, nach den Vorfällen, nicht gerechnet.
Wir waren deshalb stark motiviert, das Optimale zu bringen.
Nach dem Konzert war Totenstille, man konnte eine Stecknadel fallen hören. Nichts ging, wir standen nur da, so ungefähr eine halbe Minute. Plötzlich ein leichtes Klatschen, dann immer mehr und dann tosender Beifall minutenlang. Wir strahlten, denn wir hatten durch unseren Gesang den Bann gebrochen. Nach dem Auszug aus der Kirche haben uns die Leute berührt und auf die Schulter geklopft. Da waren wir von den Bewohnern von Luc akzeptiert und anerkannt. Denn wir, diese jungen Menschen, haben nichts Böses an sich. Uns kam nur noch Herzlichkeit entgegen. Über Nacht war auch das Hakenkreuz an unserem Quartier entfernt.
Bei dem Konzert war auch ein Urlauber aus Straßburg, der zum Präsidium des Chorverbandes Pueri Cantores gehörte.
Dieser organisierte ein Team des Normandie Fernsehens.
Wir standen dann in unseren weißen Kutten am Strand und sangen das Lied der Pueri Cantores „Ach Herr laß Dein lieb Engelein“.
Viele Badegäste blieben erstaunt stehen, denn Sängerknaben am Strand in Chorkleidung hatten sie noch nie gesehen. Dies wurde dann in der ganzen Normandie ausgestrahlt.
Wir fuhren dann zu den Orten und Museen, die an den D-Day erinnern, es ist schon ein überwältigendes Erlebnis, das alles zu sehen.
Auch die englischen, amerikanischen und deutschen Soldatenfriedhöfe standen auf dem Besichtigungsprogramm.
Auf dem deutschen Soldatenfriedhof legten wir einen Kranz nieder und einige hatten ihre Instrumente dabei und spielten das Lied vom „Guten Kameraden“.
Ein weiterer Höhepunkt war die Fahrt nach Bayeux. Wir sangen dann in der dortigen Kathedrale. Ein Besuch zum Mont St. Michel war auch ein besonderes Erlebnis. Beim Einsteigen in den Bus bekamen wir nasse Füße von der herannahenden Flut.
Beim Besuch in Le Havre konnten wir etwas Besonderes bestaunen. Die „France“, das größte Passagierschiff der Welt, war gerade am Auslaufen. Dreimal hat sie gehupt, dass die Erde bebte. Dies war schon überwältigend.
Nach zwei Wochen in Lion-sur-Mer traten wir wieder die Heimfahrt an. In Paris wurde dann Halt gemacht und auch übernachtet. Am anderen Morgen stand noch eine Stadtrundfahrt, mit dem Besuch des Eiffelturms, an. Die Meisten haben aber nicht viel mitbekommen, sie waren doch zu müde. Wir sind dann wieder heil und sehr zufrieden in Kiebingen angekommen.
Es war doch eine gelungene Reise und wir hatten viel zu erzählen. Diese Eindrücke der ersten Lion-sur-Mer Fahrt sind uns bis heute in sehr guter Erinnerung geblieben.
Einige Chorsänger verbrachten ihre Urlaube immer wieder auf dem Campingplatz in Lion-sur-Mer und hatten dadurch wieder Kontakt mit den Bewohnern und Emma Flambard.
Ein Jahr nach dem Besuch des Paluschores in der Normandie kamen Bürger von Lion-sur-Mer das Erste Mal nach Kiebingen.
Der Pauluschor war dann wieder 1970, 1974 und 1985 in Frankreich.
Aus diesen Besuchen entstand in den 1980 Jahren dann die Partnerschaft der Gemeinden Lion-sur-Mer und Kiebingen. Der Partnerschaftsvertrag wurde dann am 08.10.1988 unterschrieben.
Wie bereits 1969 ist es auch unser Ziel, den Jugendlichen die Geschichte auch aus dem 2. Weltkrieg ein Stück näherzubringen. Wir werden ebenfalls Soldatenfriedhöfe, Museen und Landungsplätze der Alliierten in der Normandie besuchen. Es ist wichtig, in den Köpfen der nächsten Generation die Geschichte zu verankern. Sowohl die vom 2. Weltkrieg, aber auch den langen Weg der Partnerschaft zwischen Kiebingen und Lion-sur-Mer.