Die musikalische Mitgestaltung festlicher Gottesdienste ist seit Jahrhunderten nicht nur ein viel geliebter Brauch, sondern auch eine besondere Form, das Wort Gottes zu verbreiten. Kein Wunder also, dass es im benachbarten Speyer bereits seit über 1.000 Jahren eine Domsingschule gibt. Seit der Reformation wurde es auch in evangelischen Gemeinden Sitte, bei Beerdigungen „zur Leiche zu singen“. Als in Reilingen im Jahre 1875 der Hauptlehrer und Organist Eyermann die Knaben und Mädchenstimmen des Schülerchors anlässlich der Beerdigung von Anna Maria Zahn im Bass verstärkte, war der evangelische Kirchenchor geboren.
Der evangelische Kirchenchor kann in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag feiern – und ist damit die älteste Gruppierung von Reilingen. Schnell wuchs der Chor auf 25 Mitglieder an und übernahm in Folge die Mitgestaltung kirchlicher Feiertage wie Karfreitag, Ostern oder Weihnachten. Als 1885 in Baden ein neues Gesangs- und Choralbuch der Landeskirche eingeführt wurde, unterstützten die Sängerinnen und Sänger die dörfliche Gemeinde beim Erlernen der neuen Lieder während des Gottesdienstes. Der Chor gewann in der aufstrebenden Spargelgemeinde zunehmend an Bedeutung. Mittlerweile galt es sogar als Auszeichnung, in den Kirchenchor aufgenommen zu werden.
Der Erste Weltkrieg hinterließ beim evangelischen Kirchenchor große Lücken, da viele Männer ins Feld einrücken mussten. Ein weiteres Problem war zudem, dass zur damaligen Zeit Frauen nach der Verheiratung aus dem Chor ausscheiden und den aktiven Chorgesang aufgeben mussten. Nach dem großen Einsatz von Chorleiter Michael Villhauer war es in dieser Zeit zu verdanken, dass der Kirchenchor nicht aufgelöst werden musste.
Das 50-jährige Bestehen im Jahr 1925 wurde im Oktober mit der Aufführung des Oratoriums „Der Jüngling von Nain“ gefeiert. Die musikalische Leitung hatte für dieses große Werk eigens Landesmusikdirektor Dr. Hermann Menrad, was einer ganz besonderen Auszeichnung des Jubelchors gleichkam. Da der Chor zu dieser Zeit weiterhin hohes Ansehen genossen hatte, richtete er zum 60-jährigen Bestehen 1935 das Bezirkskirchenchorfest des Kirchenbezirks Oberheidelberg aus. Obwohl der Zweite Weltkrieg zu einer großen Prüfung für den Chor wurde, ging es nach 1945 überraschend schnell wieder bergauf. Mit rund 70 Sängerinnen und Sängern wurde 1950 das 75-jährige Jubiläum gefeiert. Nach 20-jähriger Tätigkeit verließ 1956 Rektor Franz Riegler als Dirigent den Kirchenchor, der ab 1959 unter der Leitung des erst 19-jährigen Musikers Klaus Eisenmann und Ernst Brandenburger als Vorstand einen neuen Aufschwung erleben durfte.
Im Jahr 1975 konnte der Chor sein 100. Jubiläum mit der Aufführung der Schöpfung feiern. Musikdirektor Eisenmann konnte stolz auf seine mittlerweile 75 Aktiven sein. Dass sich der evangelische Kirchenchor aber auch als Teil der Dorfgemeinschaft sieht, wurde 1986 anlässlich der 700-Jahr-Feier der Gemeinde Reilingen deutlich: Beim großen Festumzug zeigte der Chor eine historische Heuernte mit zwei Kuhgespannen und altem Werkzeug. Mit einem Gospelkonzert unter der musikalischen Leitung von Hans Jürgen Reinhardt feierte der Chor seinen 120. Geburtstag im Jahr 1995. Aus diesem Anlass wurde auf Initiative von Dirigent Reinhardt ein Kinder- und Jugendchor gegründet.
Mit der Aufführung der „Reilinger Passion“ wird der evangelische Kirchenchor im Jahr 2000 schlagartig im Rhein-Neckar-Kreis bekannt. Dirigent Hans Jürgen Reinhardt und Vorstand Frank Powik hatten sich zum Thema 2.000 Jahre Christentum und 125 Jahre Kirchenchor etwas Besonderes ausgedacht:
Ein Passionsspiel in Reilingen
Tausende von Zuschauern erlebten beeindruckende Momente, die noch heute in vielen Menschen den Wunsch lebendig gelassen haben, dieses Passionsspiel anlässlich des 125. Jubiläums vom Kirchenchor mit mehr als 300 Aktiven noch einmal erleben zu dürfen.
Nach 20 Jahren übergab Dirigent Reinhardt den Chor an Michael Leideritz, der mit einer gut ausgebildeten und motivierten Gruppe von ca. 60 Aktiven von nun an arbeiten konnte.
Mit der Aufführung der „Deutschen Messe“ konnte der Chor unter der musikalischen Leitung von Michael Leideritz seinen 145. Geburtstag feiern.
Die Bewahrung der Tradition, das Wort Gottes im Liede zu verkünden, ist für alle Verpflichtung und Auszeichnung zugleich. Mit einer Mischung von Althergebrachtem und Neuem möchte der evangelische Kirchenchor sich seinen Herausforderungen und Aufgaben der Zukunft stellen. Schließlich gilt es auch noch in der heutigen Zeit aktiv, das Wort Gottes musikalisch zu verbreiten.