Das morgendliche Einschalten der Kaffeemaschine, das Starten des Motors oder der Blick aufs Smartphone sind gedankenlose Routinen in einer Welt der Betriebsamkeit, und ein Blick zurück auf das, was früher war, geschieht meist nur bei runden Jahrestagen.
Ein solcher nähert sich derzeit fast unbemerkt von der Öffentlichkeit – die Einweihung der Bahnunterführung bei der Kärcherhalle vor bald fünfundzwanzig Jahren. In dieser und in den nächsten Ausgaben versucht die Weingartener Woche, die Vorgeschichte und die Verwirklichung dieser technischen Meisterleistung in komprimierter Form aufzubereiten und eine bald zwei Jahrzehnte währende Diskussion nachzuzeichnen, in der insbesondere die von Walzbachtal nach Blankenloch führende Landstraße L559 eine Schlüsselstellung einnahm.
Diese führte ursprünglich auf direktem Weg von der Jöhlinger Straße über den Marktplatz in die Bahnhofstraße und über einen beschrankten Bahnübergang bei der Kärcherhalle weiter zu unserer südwestlich gelegenen Nachbargemeinde. Gemäß den Vorstellungen des damaligen Bürgermeisters Ernst Vögele sollte dies auch so bleiben. Mit einer breiten Gemeinderatsmehrheit verfolgte er das Ziel, nach dem Vorbild von Jöhlingen die Bahnhofstraße durch die Verdolung des Walzbachs zu einer leistungsfähigen Achse für den zunehmenden Individualverkehr auszubauen, die denkmalgeschützte Tullabrücke in der Ortsmitte zu beseitigen und das ortsbildprägende Ensemble durch eine großzügig ausgebaute Ampel geregelte Kreuzung zu ersetzen.
Es kam jedoch alles ganz anders. Je deutlicher den Einwohnern Weingartens die Dimension und die Folgen der geplanten Maßnahme bewusst wurden, umso mehr stellten sie den Sinn des Vorhabens infrage. Maßgeblicher Akteur in diesem Kontext war der bereits im Jahr 1965 zum Erhalt der historischen Ortsmitte gegründete Bürger- und Heimatverein. Seine Aktivitäten und der daraus resultierende politische Druck führten dazu, dass letztendlich die Verdolung an der Einmündung der Friedrich-Wilhelm-Straße in die Bahnhofstraße mit einer knappen Gemeinderatsentscheidung gestoppt und damit ein Teil des offenen Bachlaufs und die Tullabrücke erhalten werden konnten. Gleichzeitig begann mit diesem Votum eine Phase der Ratlosigkeit und der finanziellen Erschöpfung, da die Kosten des gewaltigen Vorhabens die ursprünglichen Ansätze bei Weitem überstiegen. Über Jahre hinweg präsentierte sich die Bahnhofstraße als eine festgefahrene Dauerbaustelle, und unser fröhliches Weindorf wurde vom damaligen Fraktionsvorsitzenden der CDU Hans-Dietrich Reichert liebevoll-spöttisch als „Rumpelkammer des badischen Landes“ tituliert. Dafür stand den Weingartenern und den Besuchern der Kärcherhalle nahezu unbegrenzter öffentlicher Parkraum zur Verfügung, ein kaum zu beschreibender Glückszustand, den sich vermutlich viele Anwohner sehnsuchtsvoll zurückwünschen.
Vorläufiger Schlusspunkt
Erst mit Beginn der Amtszeit des neuen Bürgermeisters Norbert Bensching im Jahr 1978 kam wieder Bewegung in die Sache. Ihm gelang es, Fördermittel für den Ausbau der Bahnhofs- als reine Ortsstraße zu erschließen, Voraussetzung dafür war jedoch eine Verlegung der L559 in die parallel verlaufende Burgstraße. Deren Anwohner waren dadurch einem zunehmenden Individual- und Schwerlastverkehr ausgesetzt, dem auch der wenig tragfähige Untergrund dieser ursprünglichen Ortsstraße kaum gewachsen war. Der nun zur Sanierung anstehende mittlere Bauabschnitt mit seinen Bodenwellen und Spurrillen ist historisches Zeugnis dieser über Jahre währenden Mehrbelastung. Freuen hingegen konnten sich die Bewohner der Bahnhofstraße. Das heutige Erscheinungsbild unserer zentralen Achse mit dem breiten Bürgersteig, den Platanen und den Pflanzbeeten geht auf die frühen Achtzigerjahre zurück, und mit dem Einlaufbauwerk an der Hartmannsbrücke war der vorläufige Schlusspunkt unter ein zu ambitioniertes und am Mehrheitswillen der Einwohner Weingartens vorangetriebenes Vorhaben gesetzt. (gö)