Im April dieses Jahres erreichte die Gemeindeverwaltung Talheim eine besondere Anfrage:
Frau Olga Victoria Rodriguez Manasse aus Kolumbien bat um einen beglaubigten Auszug aus dem Geburtenregister ihres mittlerweile verstorbenen Großvaters Herman Manasse. Er lebte in den Vorkriegsjahren mit seiner jüdischen Familie in Talheim. Während seine Eltern und Geschwister vom nationalsozialistischen Regime ermordet wurden, gelang Herman als einzigem Mitglied der Familie die Flucht.
Die Anfrage wurde von Gesine Sonzin, zuständig für das Gemeindearchiv, bearbeitet. Der beglaubigte Auszug konnte erstellt und nach Kolumbien geschickt werden.
Doch damit endete die Geschichte nicht:
Am Donnerstag, den 31. Juli, besuchte völlig überraschend Frau Liliana Rodriguez Manasse, die Schwester von Olga Victoria Rodriguez Manasse, das Talheimer Rathaus. Im Gepäck hatte sie viele Fragen zu den Spuren ihrer Familie in Talheim. Unter anderem wollte sie wissen, wo sich früher die Synagoge befand. Bauamtsleiterin Carolin Fischer zeigte ihr spontan die Obere Burg und das Schild, das an die ehemalige Synagoge erinnert.
Am folgenden Tag traf sich Frau Rodriguez Manasse mit Gesine Sonzin und Holde Gaa, die viele Jahre ihren Mann Dietrich Gaa bei der Leitung des Gemeindearchivs unterstützte. Gemeinsam suchten sie im Gemeindearchiv nach der Heiratsurkunde von Moses und Berta Manasse, geb. Hirschfeld, den Urgroßeltern von Liliana Rodriguez Manasse – und wurden tatsächlich fündig. Außerdem kam im Archiv eine ganze Akte über die Familie Manasse ans Licht.
In den vorhandenen Unterlagen fanden sich unter anderem Auflistungen der Talheimer Grundstücke und Immobilien, die im Besitz der Familie waren: so gehörten der Familie etwa das Gasthaus zum Löwen in der Hauptstraße 9, die Häuser in der Bergstraße 4 und 6, das Wohnhaus Kurze Gasse 8 sowie Grundstücke im „Vorderen Tiefen Graben“ und in den „Betteläckern“. Teilweise waren diese Liegenschaften später auch Konkursmasse.
In der Nachkriegszeit erhielt Herman Manasse vom Landesamt für Wiedergutmachung Entschädigungszahlungen für dieses Eigentum – Zahlungen, die nur noch an ihn geleistet werden konnten, da alle übrigen Familienmitglieder deportiert und ermordet worden waren, darunter auch Kinder im Alter von nur zwei Jahren.
Nach dem Wochenende, am Montag, den 4. August, führte die Spurensuche weiter nach Sontheim: Frau Gaa hatte den Schlüssel zum jüdischen Friedhof organisiert, sodass Frau Manasse dort die Gräber ihrer Urgroßeltern sowie von Gustav Manasse, einem Bruder ihres Großvaters Herman, besuchen konnte. Auch die Schwester Mina Manasse soll dort begraben liegen – ihr Grab konnte jedoch leider nicht mehr gefunden werden.
Einige persönliche Informationen zu Frau Liliana Rodrigues Manasse:
Sie wurde 1972 geboren und hat ihren Großvater Herman, der im selben Jahr verstarb, nicht mehr kennenlernen können. Sie hat eine Schwester und zwei Brüder. Ihr Großvater Herman, dem die Flucht nach Kolumbien gelang, heiratete dort, führte ein Restaurant und hatte zusammen mit seiner Frau Ana Rosa Acevedo drei Töchter.
Eine davon, seine Tochter Berta, ist die Mutter von Liliana. Liliana Rodriguez Manasse arbeitete viele Jahre als Ingenieurin und Lehrerin in Kolumbien. Den ersten Kontakt mit der Talheimer Gemeindeverwaltung nahm sie zum Anlass für eine längere Deutschlandreise auf den Spuren ihrer Familie. Dies konnte sie nun in Angriff nehmen, da sie mittlerweile eine selbstständige Tätigkeit als Lektorin/Korrektorin für wissenschaftliche Arbeiten ausübt.
Die Besuche und Nachforschungen haben deutlich gemacht, wie sehr die Geschichte einzelner Familien mit der Geschichte unseres Ortes verbunden ist. Die Erinnerung daran, was damals geschah, bleibt lebendig – auch durch die Nachkommen, die sich heute auf Spurensuche begeben und damit eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen.
Die Gemeindeverwaltung ist weiter im regen Austausch mit der Familie in Kolumbien, die uns die Bilder für diesen Artikel zur Verfügung gestellt hat. Herzlichen Dank dafür!