„Der siebte Oktober 2024 schwebt über Israel wie eine Wolke“, sagte Shimon Stein auf einer Veranstaltung des Kulturforums Südliche Bergstraße im Alten Rathaus in Wiesloch. Der ehemalige Botschafter Israels in der Bundesrepublik Deutschland führte weiter aus: In Israel lebe man im Alltag mit Terror, aber was man da erlebt habe, übertreffe alles, was man sich an Grausamkeit vorstellen könne.
Selbst, wenn man die Hamas als Widerstandskämpfer betrachte, gebe es auch für sie humanitäre Grenzen. Der Tat folgte eine heftige militärische Reaktion, die für manche als eine Rache verstanden werden kann, die wiederum eine Menge unschuldiger Opfer zur Folge hatte. Grund war, dass sich die Hamas hinter der Bevölkerung verschanzte, was dazu führte, dass man in dem Krieg keinen Unterschied zwischen aktiven Hamas und Zivilisten machte.
Stein erläuterte auch, wieso Israel nicht auf den Überfall vorbereitet war. Im Zusammenhang mit der Ablehnung einer Zweistaatenlösung hatte man die Hamas gegen die palästinensische Regierung im Westjordanland unterstützt, um diese zu schwächen. Deshalb sah man in ihr keine existentielle Gefahr und verhinderte auch nicht deren finanzielle Unterstützung durch Katar und andere arabische Staaten mit 20 bis 30 Millionen Dollar jeden Monat.
Des Weiteren habe man eine unterirdische Mauer an der Grenze zu Gaza errichtet, um so den Tunnelbau nach Israel zu verhindern. Damit wiegte man sich in Sicherheit und hatte Soldaten an der Grenze abgezogen. Und: Warnungen aufgrund von Beobachtungen, dass die Hamas im Grenzbereich trainiere, habe die israelische Regierung nicht ernst genommen. Sie habe so ihre Bürger verraten, da sie nicht ausreichend für deren Sicherheit gesorgt habe. Er könne sich durchaus vorstellen, dass sich ein solcher Überfall wiederhole.
Die israelische Regierung formulierte zu Beginn des Krieges zwei Ziele: 1. Die Hamas militärisch und zivil zu zerschlagen, 2. die Geiseln zurückzuholen. Beides ist nach Meinung Steins nicht erreicht worden. Noch mehr militärischer Druck sei nicht zielführend. Israel müsse sich aus Gaza zurückziehen und den vereinbarten Waffenstillstand einhalten, um so die vielleicht noch lebenden 25 Geiseln zu befreien und die würdevolle Beerdigung der toten Geiseln durch ihre Angehörigen zu ermöglichen. Benjamin Netanjahu sei daran aber nicht interessiert, da er in der Regierungskoalition unter Druck radikaler Parteien stehe, die einen solchen Kurs nicht mittragen, und er außerdem bei einer eventuellen Abwahl seine Immunität verliere und Gerichtsprozesse befürchten müsse.
Stein musste zugeben, dass der Nahe Osten mit einer Fülle von Konflikten und schier unlösbaren Problemen insgesamt ein Pulverfass darstellt. So schlimm es klinge, Krieg könne manches Mal auch eine Chance für neue Lösungen bieten, so wie es auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland gewesen sei, meinte er. Er könne sich eine vorübergehende Besetzung Gazas durch die israelische Armee vorstellen, die sich nach Schaffung einer gewissen Ordnung zurückziehe und nur noch bei Konflikten eingreife. Die Verwaltung müsste dann eine Technokraten-Regierung übernehmen, allerdings unter Beteiligung der Palästinenser, internationaler Staaten wie der USA und solche aus dem arabischen Raum, wie die Arabischen Emirate und Saudi-Arabien. Stein befürchtet aber, dass diese Lösung weder im Interesse der gegenwärtigen israelischen Regierung noch die der Hamas ist.
Im Laufe seines Vortrages und bei der Beantwortung der Besucher-Fragen ging Stein dann auch auf das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel ein. Er stellte klar, dass Kritik an der israelischen Regierung weder Antisemitismus sei, noch ein Tabu für Deutschland und seine Politiker darstelle. Angesichts der Tatsache, dass in Israel zurzeit versucht werde, die Gewaltenteilung auszuhebeln, wünsche er sich von deutscher Seite mehr moralische Unterstützung, um den jüdischen und demokratischen Staat zu erhalten.
Gert Weisskirchen, stellvertretender Vorsitzender des Kulturforums, hatte Stein persönlich eingeladen und bei der Begrüßung dessen analytischen Verstand gepriesen, weiterhin dass er „Konflikte präzise beschreibt und Linien in die Zukunft weist“. Das bewahrheitete sich bei seinem Vortrag genauso wie das Statement von Oberbürgermeister Dirk Elkemann: „Er ist ein besonderer Gast, der eigene differenzierte Meinungen vertritt.“ (aot)