Dies und das

Ein etwas anderer Stadtspaziergang

Auf Einladung der Hohenzollerischen Jakobusgesellschaft trafen sich 15 Interessierte zu einem besonderen Spaziergang auf den Spuren jüdischen Lebens vor...
Foto: H. Reis

Auf Einladung der Hohenzollerischen Jakobusgesellschaft trafen sich 15 Interessierte zu einem besonderen Spaziergang auf den Spuren jüdischen Lebens vor der Alten Synagoge in Hechingen. Jürg Küster, erfahrener Stadtführer und selbst Pilger, nahm die Gäste mit auf eine bemerkenswerte Reise durch die bewegte, reiche Lebensgeschichte der Hechinger Juden vom Mittelalter bis zu ihrer brutalen Auslöschung durch die Naziherrschaft.

Seit 2001 erinnert eine ungewöhnliche „Denkmal-Installation“ an die Geschichte der Hechinger Juden: ein in die Synagogenstraße eingelassenes stählernes Band endet an einer Betonmauer, auf der vier geschichtsträchtige Jahreszahlen stehen: 1435 – 1546 – 1938 - 1945.Auf dem Stahlband ist die letzte Strophe von Friedrich Hölderlins Hyperion zu lesen. Das jüdische Leben in Hechingen war brüchig, unsicher, da es maßgeblich von der Gunst der jeweils Herrschenden abhängig war. In der warmen, herrlichen Alten Synagoge mit dem wunderschönen Sternenhimmel ging Küster auf deren Entstehungs-, Nutzungsgeschichte und die Bedeutung der prunkvollen geometrischen Ornamente ein.

Berühmte jüdische Persönlichkeiten bereicherten das Kultur-, Bildungs- und Wirtschaftsleben der Stadtgesellschaft. Jörg Küster verstand es gut, die jüdische Geschichte mit Geschichten an den jeweiligen, früher von Juden bewohnten Häusern zu verlebendigen.

Karoline Kaulla (geb. 1739) war zu ihrer Zeit eine der bedeutendsten Hoffaktorinnen und galt als reichste Frau Deutschlands. Sie war Finanzberaterin und Finanzbeschafferin der damaligen Herrscherfamilien, wie für den Fürsten zu Fürstenberg in Donaueschingen oder den Herzog von Württemberg. Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Hechingen – dank jüdischer Industrieller – zu einem Zentrum der südwestdeutschen Textilindustrie. In den 1920er Jahren arbeiteten über 2.000 Personen in von jüdischen Unternehmern gegründeten und geführten Textilbetrieben. Leon Schmalzbach (geb. 1882) war Rabbinatsverweser und Lehrer an der israelitischen Volksschule in Hechingen. Nach deren Schließung (1926) erteilte er weiterhin Religionsunterricht an Hechinger Schulen. Nach einer Flucht- und Lagerodyssee kam er im KZ Jungfernhof (bei Riga) ums Leben. Am Brunnen vor dem Hechinger Rathaus weisen mehrere Reliefs auf Aspekte der jüdischen Stadtgeschichte hin. Auf dem Weg zum Obertorplatz erwähnte Küster den Rechtsanwalt und Politiker Paul Levi(1883 Hechingen - 1930 Berlin), der u. a. Rosa Luxemburg verteidigte und Vorsitzender der KPD war, später zur SPD zurückkehrte. Dr. Friedrich Wolf(geb.1888 in Neuwied) wirkte seit 1921 als Arzt, Schriftsteller, Politiker in Hechingen und kehrte nach seinem Exil 1945 nach Deutschland, Ost-Berlin zurück. Von 1950 - 52 war er erster Botschafter der DDR in Polen. Sein Sohn Markus ('Mischa') Wolf (geb. 1923 in Hechingen) war von 1956 bis 1986 Geheimdienstchef der DDR. Ein weiterer Sohn war Konrad Wolf, ein in der DDR berühmter Regisseur.

Nach dem 1. Weltkrieg und dem Erstarken des Nationalsozialismus wurde das Leben der Juden in Hechingen immer mehr reglementiert und systematisch vernichtet. Wer nicht fliehen konnte, wurde deportiert und großteils in Konzentrationslagern umgebracht. Der Besitz, das Vermögen der Juden wurde arisiert. Schon lange wohnen keine Juden mehr in Hechingen. Umso wichtiger sind die Stadtführungen, die den Spuren jüdischen Lebens nachgehen. Der Gruppe fiel auf, dass es in Hechingen weder „Stolpersteine“, die in anderen Städten an jüdische Mitbürger erinnern, noch einen Gedenkpfad mit einzelnen Erinnerungstafeln gibt. Warum ist das so? Diese und weitere Fragen beschäftigten die Teilnehmerinnen beim Abschluss im Integrations- und Begegnungszentrum Refugio. Hier auf dem Obertorplatz endete der etwas andere Stadtspaziergang, ohne Fahnen, aber mit Respekt vor dem einst blühenden jüdischen Leben in Hechingen.

Erscheinung
Stadtspiegel Hechingen – Lokalzeitung mit den Amtlichen Bekanntmachungen
Ausgabe 48/2024
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