Ansprache von Elisabeth Schröder-Kappus und Fritz Weiß
Liebe Gemeinde, liebe Anwesende,
wir gedenken heute einer besonderen Frau, Emma Flambard. Sie ist einen außergewöhnlichen Weg über Grenzen hinweg gegangen, ohne sie würde es die heute sehr lebendige Partnerschaft zwischen Kiebingen und Lion-sur-Mer nicht geben.
Emma Flambard wurde 1930 in Tübingen-Lustnau geboren. Seit 1956 lebte sie in unserer Partnergemeinde Lion-sur-Mer in der Normandie. So kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte sie vor allem in den ersten Jahren Ablehnung, Verachtung, den Zorn ihrer Nachbarn, ja auch den der Familie ihres Mannes Henri. Nicht wegen eigener Verfehlungen, sondern aufgrund der Schuld ihres Landes: Das nationalsozialistische Deutschland hatte Frankreich überfallen. Nicht nur aus Henri Flambards Familie hatten sich Menschen in der Resistance, im Widerstand engagiert. Während der Tage der Landung der Alliierten im Juni 1944 verloren viele Menschen in Lion ihr Leben. Henri Flambard war damals 18 Jahre alt. Er musste helfen, die Toten nach Nationalitäten zu bergen. So erinnern bis heute die vielen Soldatenfriedhöfe in der Normandie an das furchtbare Leid dieser Jahre.
Und dort – nur wenige Jahre später – verlieben sich Emma und Henri. Sie leben zuerst in Paris, wo Henri arbeitete, dann, mit zwei Kindern, kehren sie 1956 nach Lion zurück. Eine Deutsche in Lion-sur-Mer. Sie spürte die Reserviertheit, die Ablehnung. Und Emma sagte selbst: Sie habe es ja verstehen können, angesichts des Leids, das die Deutschen über Europa gebracht hatten. Eine Konsequenz war, dass sie zu Hause auch mit ihren Kindern nicht ihre Muttersprache, sondern nur Französisch sprach.
Aber Emma Flambard hatte ein Ziel: Sie hatte in Tübingen die französische Besatzung als Befreiung erlebt. Die französische Sprache und Kultur begeisterten sie, so war sie 1952 als Au-Pair-Mädchen nach Paris gekommen und mit ihrer dortigen Familie in deren Ferienhaus nach Lion-sur-Mer – wo sie Henri beim Tanzen kennenlernte. Ihr Ziel war es: zu zeigen, dass Deutsche anders sein können, dass zumindest Respekt, gegenseitige Achtung zwischen den Völkern möglich sein müsse. Und wer sie kannte, weiß, dass es Emmas Freundlichkeit, ihr Humor und ihr Lächeln waren, wodurch das Eis gebrochen wurde.
Auch in dieser Zeit formierte sich in Tübingen der Jugendclub des Landkreises – mit Herrn Manfred Sailer, mit Emmas Bruder, und auch mit Pfarrer Rupp aus Kiebingen – auch ihr Anliegen war es, mit den jungen Menschen eine neue demokratische Gemeinschaft zu ermöglichen und ein friedliches Europa mit Respekt unter den Nachbarn mit aufzubauen. Über diese Verbindung kam es 1969 zur Einladung des Kiebinger Pauluschors nach Lion-sur-Mer.
Fritz Weiß war dabei:
Man reiste mit gemischten Gefühlen: Was wird uns dort erwarten? Man hatte uns mitgegeben, nicht aufzufallen, denn man wusste nicht, wie die Bewohner auf eine Gruppe von Deutschen reagieren würden. Wir wurden im Nachbarort von Luc-sur-Mer ziemlich abgeschirmt in einer Schule untergebracht. Die Bevölkerung hat reserviert reagiert. Der Pfarrer von Luc-sur-Mer war von deutschen Soldaten schwer misshandelt worden. Das hatten die Bewohner nicht vergessen. Trotzdem probten wir eifrig in der Kirche von Lion-sur-Mer. Eines Morgens waren wir sehr erschreckt. An der Mauer unseres Quartiers war ein Hakenkreuz gemalt. Das hat uns sehr betroffen gemacht und keiner hat sich mehr richtig rausgetraut. Das war schon ein komisches Gefühl …
Unser Konzert fand am 30. Juli 1969 in der Kirche von Lion-sur-Mer statt, überall war es auf Plakaten angekündigt worden: Eglise de Lion-sur-Mer, Les Petits Chanteurs de Kiebingen chantent Mozart et Bach – Entree Gratuite.
Das Konzert war ein voller Erfolg. Unsere Musik hat Gutes bewirkt. Auch der Pfarrer von Luc-sur-Mer war dabei. Er lud uns ein, auch in Luc zu singen. Wir wussten nicht, was uns dort erwartet, nach den Schmierereien an der Wand unseres Quartiers. Es war schon ein mulmiges Gefühl. So standen wir vor der Kirche in unseren weißen Kutten. Die Kirchentüren öffneten sich und wir zogen in die Kirche ein. Wir waren überwältigt: Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Es lief uns kalt den Rücken runter. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wir waren deshalb stark motiviert, das Optimale zu bringen. Nach dem Konzert war Totenstille. Plötzlich ein leises Klatschen, dann immer mehr und dann tosender Beifall minutenlang. Wir strahlten, denn wir hatten durch unseren Gesang den Bann gebrochen. Nach dem Auszug haben uns die Leute berührt und auf die Schulter geklopft. Denn wir, die jungen Menschen, hatten für sie nichts Böses an sich. Über Nacht wurde auch das Hakenkreuz an unserem Quartier entfernt. (Fritz Weiß)
Und dennoch dauerte es nochmals zwanzig Jahre, bis auch Kiebingen zumindest mehrheitlich bereit für eine offizielle Städtepartnerschaft mit Lion-sur-Mer war. Auch hier gab es ein Schlüsselerlebnis: Zum Volkstrauertag 1987 lud der damalige Ortsvorsteher Sep Hör Veteranen des Zweiten Weltkriegs aus Rottenburg und aus Lion-sur-Mer ein. Unter ihnen war Monsieur Roger Agnes. Als Mitglied der Resistance, des französischen Widerstands, wurde er im Oktober 1943 verhaftet und in den KZs Buchenwald und Dora/ Südharz interniert. Er hat überlebt. Gemeinsam mit Richard Gog, dem Vorsitzenden des Rottenburger Verbandes der Heimkehrer, wurde der Opfer von Krieg und Gewalt gedacht. Auch Roger Agnes hatte sich für den Weg der Versöhnung entschieden.
Erst Ende der Neunzigerjahre hat er seine handschriftlichen Erinnerungen an die Jahre in den deutschen Konzentrationslagern Bürgermeister Jean-Marc-Gilles übergeben. Wir haben sie ins Deutsche übersetzen lassen. Beeindruckend war, wenn er an der Seite von Emma und Henri Flambard unseren Jugendlichen auf unseren ersten Jugendreisen von seinen Erfahrungen erzählte und für den Respekt und ein vereintes Europa geworben hat. Ein Zitat von ihm: „Es darf nie vergessen werden, dass der Krieg mit all seinen Opfern und Gräueltaten uns den Auftrag erteilt, uns aktiv an den Unternehmungen aller zu beteiligen, die sich dessen bewusst werden, dass der Krieg die schlimmste Plage der Menschheit ist.“
Unsere Kinder waren bei den ersten Jugendreisen dabei. Mein Sohn hat uns im Rückblick auf diese Jugendreisen geschrieben: Ich erinnere mich an die Erwachsenen, die den Besuch dort als Gastgeber getragen und die Stimmung und das Gefühl des offenen, herzlichen Empfangs geprägt haben. Diese Erfahrung ist sicher sehr hilfreich für ein Gefühl eines vielfältigen und zusammengehörigen Europas, und wichtig ist auch die Erfahrung, dass man unabhängig von der Sprachbarriere Gemeinsamkeiten und Interesse füreinander hat. Besonderen Wert hatten diese Reisen vor allem, weil sie über das touristische Sehen hinausgehen und die Begegnung der Menschen und das Kennenlernen der anderen und ihre Geschichte im Vordergrund standen. Beeindruckt haben mich damals auch die Begegnungen mit den Überlebenden der Nazizeit.
Emma Flambard hat ihr Leben lang durchgehalten, die Vorurteile und Abneigung ertragen, aber zunehmend gemeinsam mit ihrem Mann Henri Begegnungen ermöglicht, ja Freundschaften gestiftet. Sie hat einige Jahre Grundschulklassen nach Kiebingen und Tübingen begleitet – Herr Sailer, danke für Ihre Gastfreundschaft als Leiter der Tübinger Jugendherberge! – jährlich hat sie die Freundschaft beim Crepe-Stand am Rottenburger Neckarfest vertieft. Sie hat seit immer wieder die Gruppen unserer Jugendreisen begrüßt. Sie hat ihre Erfahrungen an die ihr nachfolgenden Präsidenten des Partnerschaftsvereins Jean Vaillant, Rene Guillaume und Jean-Batiste Baglin weitergegeben. Sie hat nicht aufgegeben. Und auch als sie krank wurde, spürten wir ihre Freude, dass die Partnerschaft lebt, wenn sie wenigstens ein paar Stunden bei den abendlichen Festen dabei sein konnte.
Uns Nachgeborenen bleibt es, dieses Erbe nicht aufzugeben, nicht am Rande stehenzubleiben, sondern uns selbst immer wieder aufzumachen, Vorurteile zu überwinden. Emma Flambard wurde von Jean Vaillant, dem ehemaligen Präsidenten des Partnerschaftsvereins Lion-sur-Mer/ Kiebingen nach einem Fazit ihrer Arbeit für die Aussöhnung zwischen unseren Ländern gefragt – sie antwortet mit folgenden Begriffen, die sie geleitet hätten: Freiheit – Respekt – Solidarität – Bereitschaft zum Dialog und Nächstenliebe. Eine Ermutigung und Aufforderung an uns, diesen Weg fortzusetzen – gerade auch heute, wo ein stabiles, friedliches, sich für eine respektvolle Partnerschaft einsetzendes Europa so wichtig ist
Wir sind dankbar, dass wir mit Emma Flambard und vielen anderen über 35 Jahre diese lebendige Partnerschaft und Freundschaft aufbauen und festigen durften. Ich werde ihr fröhliches Lächeln und ihre charmante Mischung aus Deutsch, Schwäbisch und Französisch in unseren Konversationen nicht vergessen. Und ihren unerschütterlichen Glauben daran, dass es Früchte trägt. Und diese – ihre – Hoffnung auf ein einiges starkes Europa kann uns keiner mehr nehmen.
Danke Emma, danke auch Henri und Monsieur Roger Agnes, danke unseren Freunden in Lion-sur-Mer für den Mut und das Durchhaltevermögen, die Freundschaft zwischen unseren Orten und Ländern zu festigen.