Kraichtal-Neuenbürg ... von Hans-Joachim Of
„Der Anlass unseres heutigen Zusammentreffens ist auf den ersten Blick nicht sonderlich erfreulich“, begrüßte Hartmut Hubbuch, Vorsitzender des Heimatvereins Neuenbürg, die Gäste, darunter Mitglieder des Gemeinderates und der Ortsvereine, die sich am Sonntag zu einer Gedenkstein-Segnung auf dem Friedhof in Neuenbürg eingefunden hatten. Mit diesem Stein wird an die Geschwister Ida und Richard Weis, Neuenbürger Opfer des Nationalsozialismus, gedacht. Hubbuch freute sich, dass sich so viele Menschen eingefunden hatten und sagte: „Es ist wichtig, dass die Geschichte Neuenbürgs und gerade die unangenehmen Momente, niemals in Vergessenheit geraten.“ Diese Tatsache stellte auch Kraichtals Bürgermeister Tobias Borho in den Mittelpunkt seiner Ausführungen und sprach von einem „ganz wichtigen Tag und einem besonderen Projekt“, das der Heimatverein zusammen mit der Stadt realisiert und auf die Beine gestellt habe. Gerade der eindrucksvolle Film „Das Dritte Reich und WIR“ stehe beispielhaft für das Engagement vieler Menschen, „auf die man stolz sein kann“. Der fast 60 Minuten lange, von der Kreativagentur „Spacemedia“ aus Waghäusel produzierte Film, aus dem letztlich die Niederlegung des Gedenksteins entstand, ist ein Gesamtprojekt, an dem insgesamt zehn Ortschaften in Deutschland beteiligt waren. „Das kann nur funktionieren, wenn das ganze Dorf mitmacht.“ Der eindrucksvolle Film wurde im NS-Dokumentationszentrum München mit dem ersten Preis ausgezeichnet (der Kraichtalbote berichtete ausführlich).
„Wir leben in einem Land und in einer Demokratie, wo jeder seine Meinung kundtun darf. Das ist ein ganz wichtiges Gut“, Bürgermeister Borho. Der Gedenkstein sei ein Mahnmal für alle Verfolgten und an die dunklen Jahre. Als sich Hartmut Hubbuch im Vorfeld Gedanken über seine Ausführungen machte, seien ihm die Worte von Marianne Kempermann, der Nichte von Ida und Richard Weis, in den Kopf gekommen. „Sie wusste bis zu den Recherchen unseres Projektes ‚Das Dritte Reich und WIR‘, ebenso wie ihr Bruder Gottlieb, nichts von der Existenz eines Richard Weis. Sie wusste nicht, dass sie einen Onkel mit Namen Richard hatte und sie wusste nicht, dass dieser Mann im KZ Mauthausen ermordet wurde. Besonders schlimm war es für sie, dass es keinen Ort oder ein Grab gibt, an dem sie für die Verstorbenen ein Gebet sprechen oder eine Kerze anzünden kann.“ Diese Worte hätten alle Projektmitglieder in Neuenbürg sehr bewegt und man setzte sich zum Ziel, für die beiden einen solchen Ort zu schaffen. „Wir waren uns recht schnell einig, dass nur Gedenkstein in Frage kommen würde. Ein Felsbrocken aus einem Steinbruch in Vaihingen-Enz.“ Jenem Vaihingen-Enz, dessen Konzentrationslager am 7. April 1945 durch die alliierten Streitkräfte befreit wurde. Aus diesem KZ wurden mehr als 400 schwerstkranke Häftlinge nach Neuenbürg transportiert. Das Dorf wurde innerhalb von zwei Stunden geräumt und in ein Lazarett-Dorf umfunktioniert. Die Gräber all der Menschen, die während dieser Zeit in Neuenbürg verstorben sind, sind heute noch auf dem Friedhof existent.
„Ida und Richard Weis erhalten heute ein Grab in ihrem Dorf, in Neuenbürg. Einen Ort, an dem ihre Nachfahren den Ermordeten gedenken können. Ein Ort, der uns aber auch an die schrecklichen Geschehnisse in der NS-Zeit erinnern soll.“ Hubbuch erinnerte an den Muttertag am Sonntag und führte weiter aus: „Ida Weis war Mutter von drei Kindern. Sie wurden ihr von den Behörden entzogen und in Pflegefamilien gegeben, einfach so.“ Richard Weis sei es hingegen nie vergönnt gewesen, Vater zu werden. Das Regime hatte nachhaltig dafür gesorgt. Beide waren aus unterschiedlichen Gründen ins KZ gekommen. Ida nach Auschwitz, weil sie bei einer jüdischen Familie gearbeitet hatte und sich öffentlich kritisch über das NS-Regime äußerte. Richard wurde nach Mauthausen deportiert. Es ist davon auszugehen, dass er nicht zuletzt wegen einer Behinderung als lebensunwert erachtet wurde. „Beide wurden eingesperrt, ihrer Ehre beraubt, gefoltert, gequält und schließlich ermordet. Einfach so.“
Der Ort des Gedenksteins könne nicht besser gewählt sein. Zwischen den in Neuenbürg gestorbenen KZ-Gefangenen aus Vaihingen-Enz und den Neuenbürgern, die im Krieg als Soldaten gefallen waren. „Sie alle haben eines gemeinsam. Ihr Tod war unnötig und hat nur Leid und Schmerz verursacht.“ Jetzt seien Ida und Richard Weis wieder zu Hause angekommen, so Hartmut Hubbuch in seiner eindrucksvollen, emotionalen Rede, in die auch ein Gast aus München eingebettet war. „Christopher Vila werden die wenigsten Anwesenden kennen. Ohne diesen Mann hätten unsere Recherchen zu Ida und Richard Weis wohl nicht zum Erfolg geführt“, berichtete Hubbuch. Christopher Vila ist Vorsitzender des Heimatvereins Egling an der Paar in Bayern und zugleich Sekretär der Lagergemeinschaft Dachau der Bundesrepublik Deutschland. Vila: „Vergangenheit ist auch immer Teil der Gegenwart und Zukunft.“ Und weiter: „Nie wieder ist nicht jetzt, sondern heute, morgen und übermorgen.“ Hartmut Hubbuch abschließend: „Weder von Ida noch von Richard Weis gibt es bislang Fotomaterial. Was wir jedoch haben, ist ein Bild von Idas Kommunion. Es ist mittlerweile 104 Jahre alt und zeugt von einer normalen Kindheit im Jahre 1920, 13 Jahre vor der NS-Diktatur.“ Der Dank des Vereinsvorsitzenden galt am Ende Bürgermeister Tobias Borho, der es ermöglichte, dass Ida und Richard Weis zumindest eine würdige Gedenkstätte erhielten, sowie Thomas Mikisek als Vertreter der Sparkasse Kraichgau. „Erst durch die großzügige Spende der Sparkasse konnten wir diese Gedenkstätte finanzieren.“
Letztlich auch der Jagdhornbläsergruppe St. Eustachius Kraichtal mit Markus Fuchs, die mit festlichen Fanfaren für die musikalische Umrahmung sorgten. Zudem hatte Chor- und Orchesterdirigent Stefan Degen am Keyboard unter anderem das bekannte Lied von den „Moorsoldaten“, das 1933 von Häftlingen des Konzentrationslagers Börgermoor geschrieben wurde, intoniert. Pfarrer Wolfram Stockinger, der sich spontan bereit erklärt hatte, die Segnung des Gedenksteins zu übernehmen: „Dies ist wichtiger Moment, der uns an das bewegende Schicksal zweier Menschen erinnern soll“. Der Gedenkstein stehe symbolisch für „nicht vergessen“, aber auch, dass Versöhnung geschehen kann. Der Geistliche las aus dem Buch Genesis, bat um Gottes Segen und die Kirchenglocke läutete im Gedenken an die im KZ ermordeten Menschen. Hans Dieter Gerhard, Enkel von Ida Weis, war mit seiner Frau Martha auf Einladung des Heimatvereins zur rund einstündigen Gedenkfeier angereist und eröffnete mit feuchten Augen: „Es ist ein unbeschreiblicher Tag für uns. Wir sind dem Heimatverein unendlich dankbar.“
Aktuell begeht der Heimatverein Neuenbürg sein 25-jähriges Jubiläum. Er hatte bereits im Jahre 2022 mit einer sehenswerten Wanderausstellung „Stolen Memory“ in der Mehrzweckhalle aufhorchen lassen und in einem Vortragsabend mit dem Titel „Was geschah am 9. auf den 10. November 1938?“ über die Geschehnisse und Hintergründe der Reichspogromnacht berichtet. Im Volksmund wurde das Ereignis unter dem Namen Kristallnacht oder auch Reichskristallnacht bekannt. In der nächsten Ausgabe des Kraichtalboten wird auf Vereinsjubiläum und Historie eingegangen.