
Vor 85 Jahren wurden 45 Wieslocher und Baiertaler Bürger, Männer, Frauen und Kinder, mitten aus dem Leben gerissen und nach dem südfranzösischen Gurs deportiert.
„Sie mussten alles zurücklassen“, wie Oberbürgermeister Dirk Elkemann bei der Gedenkfeier in der evangelischen Stadtkirche ausführte, „auch die Hoffnung auf Wiederkehr.“
Im Altarraum war eine Tafel mit den Namen und für jeden Einzelnen eine brennende Kerze aufgestellt. Sie sollten daran erinnern, dass die Deportation nur am Anfang eines unsäglichen Leids stand, den ein verbrecherischer deutscher Staat Jüdinnen und Juden, und darüber hinaus noch vielen anderen Menschen, angetan hat.
Nicht auf der Tafel stehen Leopold, Rositta und Hans Oppenheimer, die von Heidelberg aus mit dem Zug nach Gurs transportiert worden waren.
Die bekannte Wieslocher Unternehmerfamilie betrieb hier eine der größten Pfeifentabakfabriken Deutschlands, bevor sie ihre Fabrik in der Altwieslocher Straße für einen Hungerlohn an einen „arischen Deutschen“ verkaufte und danach in ein übervolles „Judenhaus“ in Heidelberg umziehen musste. Verschont blieb nur der ältere Sohn Max, der noch vor dem Zweiten Weltkrieg nach England emigrierte.
Der Dielheimer Anton Ottmann hat das Leben der Familie Oppenheimer gründlich recherchiert und in einem Buch veröffentlicht. Wesentliche Grundlage waren über 200 Briefe, die sich die Eltern aus dem Lager in Gurs mit ihrem Sohn Hans schrieben, der 600 Kilometer entfernt bei einem Bauern arbeitete.
Auszüge daraus hat der Autor in einer szenischen Lesung verarbeitet, der er den Namen „Briefe gegen das Vergessen“ gab und die am Gedenktag zur Aufführung kam. Rositta sprach Ursula Ottmann, Leopold der Autor selbst.
Hans gab Friedrich Becht seine Stimme, der auch die begleitende Bildershow zusammengestellt hatte. Erklärende und verbindende Worte kamen von Gert Weisskirchen und für die einfühlsame musikalische Umrahmung sorgte auf dem Klavier Martin Ritz.
Die Menschen lebten im Lager von Gurs unter erbärmlichen Umständen. Männer und Frauen getrennt, zusammengepfercht in armseligen Baracken, die kaum zu heizen waren, und in denen es keine Privatbereiche gab.
Geschlafen wurde auf Stroh und als Essen gab es meist nur Suppe. Die Latrinen waren im Freien für alle einsehbar. Darüber hinaus gab es keine medizinische Versorgung, Alte und Kranke starben reihenweise.
Die Briefe zeichnen trotz allem ein differenziertes Bild, das sich von dem deutschen Konzentrationslager unterscheidet. Man durfte Briefe schreiben und empfangen und konnte sich Geld und Lebensmittel schicken lassen.
Juden wurden genauso behandelt wie andere Deportierte und es gab Arbeitsmöglichkeiten, die geringfügig bezahlt wurden. Von Schikanen, Folter oder gar willkürlichen Tötungen waren weder in den Briefen die Rede, noch fand der Autor dazu Anhaltspunkte in den Akten der französischen Behörden. Leopold bekam sogar Urlaub, um an der Beerdigung seines Bruders teilzunehmen, der im Krankenhaus der Stadt Pau starb.
Eine Überlebensperspektive eröffnete sich für Hans, als er von Gurs aus in eine Arbeitskompanie versetzt wurde. Nach anfänglich harter körperlicher Arbeit als Holzfäller kam er als Hilfskraft zu einem Bauern, weil die Vorgesetzten gemerkt hatten, dass er damit überfordert war.
Nach kurzer Zeit wurde er aufgrund seines Fleißes und der liebevollen Pflege der Tiere wie ein Familienmitglied behandelt. In den Briefen finden sich Hinweise, dass er sich in die Schwester des Bauern verliebte und dies von der Familie durchaus wohlwollend gesehen wurde.
Er hatte schon die Erlaubnis, seine Eltern, die inzwischen in einem anderen Lager untergebracht waren, zu besuchen, als plötzlich alles abgesagt wurde.
Denn das Nazi-Regime hatte begonnen, die deportierten Juden zurückzuholen, um sie in KZs unterzubringen und zu vernichten, darunter auch Leopold und Hans.
Rositta blieb, vermutlich wegen ihrer guten Französischkenntnisse, verschont, und konnte am Ende nach Wiesloch zurückkehren. Zum Abschluss der berührenden Lesung las Pfarrerin Sabine König das jüdische Totengebet Kaddisch und erteilte den Mitwirkenden und Besuchern den Segen.
Zwei weitere Lesungen zur Familie Oppenheimer beschreiben zum einen das Leben aller vier Familienmitglieder von der Geburt bis zum Tod. In „Rositta, eine starke Frau“, erfährt man, dass sie nicht nur hochgebildet war, fließend Französisch sprach und Gedichte schrieb, sondern einen ungeheuren Lebenswillen besaß und nach dem Krieg einen ganz neuen Lebensabschnitt begann. (red)
