Stadt Ebersbach an der Fils
73061 Ebersbach an der Fils
Soziales

Gesprächsreihe mit Ebersbacher Neubürgern

Ich bin schon da! Heute treffe ich mich mit Vanissa, 34, und schon nach den ersten fünf Minuten befürchte ich, dass der Platz nicht ausreichen wird...
Foto: Vanissa

Ich bin schon da!

Heute treffe ich mich mit Vanissa, 34, und schon nach den ersten fünf Minuten befürchte ich, dass der Platz nicht ausreichen wird und schiebe meinen Fragenkatalog beiseite. Sie sprudelt über vor Energie und strahlt eine ungeheure Entschlossenheit aus. Ich habe sie vor zwei Jahren kennengelernt, damals sprach sie kaum ein Wort Deutsch und jetzt können wir uns mühelos unterhalten.

Du kamst vor drei Jahren allein aus Kamerun. Warum? Erzähle uns ein bisschen von deinem Leben dort.

Also, nach Deutschland kam ich nur zufällig.

(Ich lache ungläubig). Wie bitte?

Okay, von vorne: Ich habe nach dem Abitur den Bachelor in Marketing gemacht, arbeitete anschließend in einem Verein, der sich um physisch behinderte Kinder kümmert. Eines Tages bot ein Mann unserer Präsidentin an, mich für eine Fortbildung nach Europa zu schicken. Ich spreche außer meiner Muttersprache auch Englisch und Französisch. Er stellte mir in Aussicht, viele nützliche Dinge wie bspw. Rollstühle oder Brillen für die Kinder mitbringen zu können und natürlich ein Certificate zu bekommen. Wir waren beide begeistert, deshalb bezahlte ich die Kurskosten, ließ meine beiden Kinder bei meinen Eltern und flog mit ihm nach Europa. Vor dem Flug nahm er mir meinen Pass ab und übergab mir einen anderen, warum, verstand ich nicht. Wir landeten entweder in Frankreich oder in Belgien, das sah ich an den Schildern. Dann musste ich in ein Auto einsteigen, er verschwand und ein Mann fuhr mich irgendwohin, wo ich nichts mehr lesen konnte. Dort wurde ich in ein Haus gebracht, in dem ich drei Wochen warten musste. Eines Tages hieß es, mein Geld sei zu Ende, ich müsse gehen. Ich wurde vor die Tür gesetzt, war also betrogen worden.

Was sollte ich tun? Ich hatte doch keine Wahl. Eine Frau schickte mich nach Gießen, dort trat ich ins Asylverfahren ein. In der Anhörung habe ich dies alles erzählt, aber natürlich wurde mein Antrag auf Asyl abgelehnt. Allerdings erwähnte der Richter die Möglichkeit, mit einer Ausbildung das Aufenthaltsrecht zu Arbeitszwecken zu bekommen und das mache ich gerade.

Wow. Ziemlich abenteuerlich, einem Fremden einfach so zu vertrauen…

Stimmt. Er machte einen vertrauenswürdigen Eindruck und da ich sehr gläubig bin, glaubte ich, Gott würde mir eine Türe öffnen, um vielen Kindern helfen zu können.

Es hört sich verrückt an, aber trotz dieser traurigen Asylgeschichte bin ich dankbar, diese Erfahrung machen zu dürfen. Im Moment arbeite ich in einem Kindergarten und ich sehe für diese Kinder so viele Chancen, so viele Möglichkeiten, die Kinder in Kamerun nicht haben. Nach meiner Ausbildung würde ich gerne mithelfen, dass sie ähnliche Chancen bekommen. Kinder sind das Fundament unseres Lebens, wir müssen ihnen die beste Ausbildung geben, ihnen Chancen anbieten, aus diesem Grund bin ich auf das Angebot dieses Mannes überhaupt erst eingegangen. Die Trennung von meinen Kindern fällt mir sehr schwer, aber ich will diese Chance, die sich mir jetzt trotzdem bietet, auch nutzen. Es war nicht der Weg, den ich mir vorgestellt habe, aber man kann, nein, man muss aus allem etwas machen, und hier gibt es so viel zu lernen! Vor allem gibt es in Kamerun keine Weiterbildungsmöglichkeiten mehr, wenn du über 30 bist. Ich habe nur diese eine Chance und ich will sie unbedingt nutzen.

Wie fandest du denn so schnell einen Ausbildungsplatz?

Ich habe mich überall beworben und schließlich einen Ausbildungsplatz als Erzieherin in einem Kindergarten gefunden. Ich bin jetzt im zweiten Jahr. Mit der Sprache könnte ich schon weiter sein, denn ich habe über Youtube während der ganzen Zeit, in der ich nichts zu tun hatte, auf eigene Kosten Deutschkurse absolviert. Im A1 Kurs (Anfängerniveau) war ich deshalb unterfordert, habe Zeit verloren, musste aber trotzdem in diesem Kurs bleiben, durfte nicht überspringen, um meinen Platz nicht zu verlieren.

Da ist sie wieder, die Bürokratie…

Ja, das war ein bisschen schade. Aber es ist nun mal so. Eigentlich will ich Sozialarbeiterin werden, aber ein Schritt nach dem anderen.

Gibt es einen Unterschied zwischen den Kindern hier und in Kamerun?

Unbedingt! (Rollt energisch mit den Augen). Ich wüsste nicht einmal, welche Farbe die Augen meines Vaters haben, weil wir so respektvoll sein müssen, aber hier? Ich sage einem Kind, dass es spielen soll und was passiert? Es kuckt mir gerade ins Gesicht und sagt: Kein Bock!

Woran liegt das, deiner Ansicht nach?

Hm. (Zögert). Darf ich das überhaupt sagen?

Ich bitte doch darum!

Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Kinder hier über ihren Eltern thronen. Sie wissen ganz genau, welche Rechte sie haben. Aber Pflichten haben sie so gut wie keine. Das macht mir, ehrlich gesagt, Angst vor der Zukunft. Hier arbeiten alle und die Mutter geht ins Altersheim und wird dort vergessen. Es ist, als ob eine Bibliothek verbrennt, weil du von ihren Erfahrungen, ihrem Wissen nichts mehr lernen kannst. Der Respekt und auch die Liebe vor und für das Alter fehlen mir ein bisschen. Wenn du hier deinem Gesprächspartner nicht in die Augen schaust, glaubt man, dass du lügst. Bei uns bedeutet es Respekt. Aber ich sage mir, Vanissa, das ist eine andere Kultur, du musst offen sein. Nur so kannst du sie kennenlernen.

Wie gefällt es dir eigentlich in Ebersbach?

Ehrlich? Als wir von Karlsruhe hierherfuhren, war ich müde und genervt. Ebersbach? Was ist das für ein Dorf? Dann fiel mir meine Mama ein, die immer sagt, du musst mit dem Boden kommunizieren, auf dem du lebst. Dich einlassen, auf das, was dir geboten wird. Hier leben auch Leute und alles ist möglich! Deshalb sagte ich, sorry, Gott, ich kann auch hier meine Integration vorantreiben. Die Sprache ist der Schlüssel, deshalb habe ich in dem Verein Vera Sompon Socialservices nebenher weitere Deutschkurse belegt und mich dort auch ein bisschen engagiert. Obwohl es schwierig ist, ich denke Französisch und muss erst alles übersetzen, da haben es die Deutschsprachigen in der Klasse einfacher. Für die Deutschprüfung zu B1 bin ich extra zur VHS nach Biberach gefahren, weil es in Göppingen keinen passenden Termin gab. Nach dem zweiten Anlauf habe ich auch die B2 bestanden und war nun für einen Ausbildungsplatz bereit. Dafür muss man gleichzeitig Schule und Kita-Einrichtung suchen. Nach einem sechswöchigen Praktikum bekam ich einen Ausbildungsvertrag beim DRK Familienzentrum.

Und wie fühlst du dich inzwischen? War das Dorf eine gute Entscheidung?

(Lacht). Ich muss jetzt mal was sagen. Ich bin unendlich dankbar, es gibt so viele hilfsbereite Leute hier, sie haben mich in allen Bereichen sehr unterstützt. Vor allem das Café Asyl, das ist so eine tolle und wichtige Einrichtung. Als Flüchtling sitzt du zuhause, versuchst, die Sprache zu lernen, du hast Angst, weißt nicht, ob du am nächsten Tag überhaupt noch hier sein darfst, du bekommst Briefe, die du nicht verstehst. Was machst du? Du nimmst sie mit ins Café Asyl, wo die Leute sie dir erklären, dir Hilfestellung geben für Sprachkurse, für Lernmittel, für deine ganze Integration. Vor allem: Du kannst reden, von deinen Sorgen berichten, jemand hört dir zu, das tut unendlich gut. Menschen, die für Menschen und nicht für Material arbeiten, arbeiten mit Herz.

Du bist also angekommen? Akzeptiert?

Mehr als das. Ich habe Freunde gefunden. Ohne Kontakt zu Menschen gibt es keine Integration, ohne Sprache keinen Kontakt.

Wo siehst du dich in zehn Jahren?

Ich will Sozialarbeiterin werden, möchte, dass meine Kinder zu mir kommen können. Wir reden über Whatsapp Video, aber das ist nicht das Gleiche. Ich will hier nützlich sein, mich in die Gesellschaft einbringen, aber auch den Kindern in Kamerun helfen, wenn sich die politische Lage entspannt. Ich hoffe, ich finde einen guten Job.

Das wird vermutlich kein Problem sein, wir haben überall Personalmangel; es wird sogar im Ausland nach Fachkräften gesucht.

Das braucht ihr nicht! Ich bin schon da! (Lacht verlegen.) Ich bin für alles bereit. Ihr müsst mir nur eine Chance geben.

Erscheinung
Ebersbacher Stadtblatt
NUSSBAUM+
Ausgabe 45/2024

Orte

Ebersbach an der Fils

Kategorien

Panorama
Soziales
von Stadt Ebersbach an der Fils
08.11.2024
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