Ein Interview von Gaby Strittmatter-Seitz und Bülent Tekdal.
Heute sitzen wir zu zweit mit Hamid zusammen, einem Syrer, der vor zwei Jahren nach Deutschland kam. Bülent fungiert nebenher als Übersetzer, denn Hamid spricht aus Gründen, die wir später erfahren, außer arabisch viel besser türkisch als deutsch. Er erzählt ruhig und nüchtern, lächelt nur selten, während er für uns in seinen Erinnerungen kramt.
Ich bin in Damaskus als eines von 8 Kindern geboren. Nach dem Fachabitur studierte ich Maschinenbau, bis mich Assad aus der Uni holte und in seine Armee zwang.
Der Arabische Frühling klopfte 2011 auch in Syrien an und da die meisten Menschen an der Armutsgrenze lebten, erhofften sie sich nun eine Verbesserung ihrer Lebensumstände. Assad und sein Vater regierten das Land 60 Jahre lang und nur ihr eigener Zirkel lebte im Überfluss, das Volk eher von der Hand in den Mund, denn sobald jemand ein Geschäft oder einen Laden eröffnen wollte, standen dessen Schergen da, die von den Leuten einen Anteil erpressten.
Richtig. Nach den ersten Unruhen versprach Assad Reformen, doch tatsächlich wurde alles noch viel schlimmer. Die Repressalien begannen nach dem bestialischen Mord an zwei kleinen Kindern.
Zwei 6 und 7 Jahre alten Kinder hatten eine Spraydose gefunden und sprühten eine Parole, die sie im Radio über den Frühling in Syrien gehört hatten, an eine Wand. Die Polizei schnitt ihnen die Finger ab, blendete sie und brachte sie grausam um. Die Leichen sandte man ihren Eltern mit der Botschaft, Frauen zu schicken, damit man bessere Kinder zeugen könne. Der Polizeichef war ein Cousin von Assad, er wurde nicht bestraft. Daraufhin brach ein Bürgerkrieg los, der brutal niedergeschlagen wurde. Frauen wurden vergewaltigt, Männer geschlagen, erschossen oder in Gefängnisse gesteckt.
(Uns fehlen die Worte. Nach einer Weile redet er weiter.)
Unsere Kompanie wurde in eine Stadt geschickt, um die Aufstände zu ersticken. Innerhalb der Armee gab es Assadfreunde, aber auch -gegner, die sich zunächst zurückhielten. Eines Tages wurde direkt neben mir ein Mann durch einen Kopfschuss getötet, nur, weil er jemandem aus der Bevölkerung helfen wollte. Ich befürchtete, dass es mir genauso gehen würde, entweder müsste ich jemanden töten oder würde selber umgebracht, deshalb wollte ich unbedingt weg. Mein Vater beschwor mich zu warten, weil eine Schwester zu der Zeit in der Uni war und ein Bruder Arzt im Krankenhaus. Würde ich fliehen, müsste es meine Familie büßen.
Ich wurde in den Nordosten Syriens versetzt. Das ist ein autonomes Kurdengebiet, das in Folge des Bürgerkriegs entstand. Die Leute lebten dort in relativer Sicherheit, aber wenn einer flüchten wollte, wäre es sein Todesurteil gewesen. Wir campierten in einem Lager nahe der türkischen Grenze. Vor uns lag ein großes Feld, in dem der Weizen ziemlich hoch stand. Ich beschloss, die Flucht zu versuchen. Mit mir wollten noch 20 andere kommen. Wir verabredeten im Vorfeld, jeden, der verwundet würde, liegenzulassen. Als wir losstürmten, bemerkten wir, dass uns noch viele andere folgten. Assads Soldaten schossen hinter uns her, doch plötzlich befanden wir uns im vollen Kugelhagel, denn auch von vorne wurden wir beschossen, weil die türkischen Soldaten glaubten, die Syrer würden auf sie schießen. Ein Freund wurde neben mir verwundet, er lag zwei Tage in diesem Feld, wie ich später erfahren habe. Mit seinem Handy rief er um Hilfe und konnte mit Hilfe von Freunden überleben. Von den ca. 80 anderen Flüchtenden hatten nur sechs dieses Glück, mich eingeschlossen. Ich hatte lediglich zwei Löcher von Streifschüssen in meiner Hose, aber das Geräusch der sirrenden Kugeln verfolgt mich bis heute.
Die autonomen syrischen Soldaten steckten mich drei Monate lang in ein Gefängnis, nahmen mir alle Papiere und mein Telefon ab und versuchten herauszufinden, ob ich Gewalttaten begangen hätte. Ich bekam kaum Nahrung, außerdem erzählten sie mir, dass sie die Stellung der syrischen Armee vernichtet hätten, außer einigen Offizieren, die motorisiert waren und daher fliehen konnten.
Mit der Zeit freundete ich mich mit einem Wärter an, der mir sein Telefon lieh. Ich rief meinen Vater an, der aus allen Wolken fiel. Nach dem Gefecht war ich nämlich als gefallen eingestuft worden und meine Eltern bekamen einen Anruf mit der Mitteilung, ich sei tot.
Richtig. Für das Militär war ich gefallen, der Staat führt mich als verschollen, das ist so, solange kein Augenzeuge beschwört, dass man getötet wurde. Meine Familie bekam von der Armee einen Märtyrerschein für mich, weil ich mich für das Vaterland geopfert hatte. Damit organisierte sie eine Beerdigung mit einem leeren Sarg. Nur meine engste Familie weiß, dass ich noch am Leben bin.
(Er grinst plötzlich.) Warum lachst du?
Vor einiger Zeit traf ich in Stuttgart zufällig einen Verwandten, der vor Schreck beinahe einen Herzinfarkt bekam. Er dachte, er sähe einen Geist.
Die autonomen syrischen Soldaten boten mir an, bei ihnen zu bleiben, nachdem festgestellt wurde, dass von mir keine Gefahr ausging, doch ich hatte die Nase voll von Krieg und Blutvergießen. Sie hatten mich und noch zwei andere in einer zerbombten Schule untergebracht. Dort gab es verschiedene Gruppierungen, harmlose Leute, Syrer, Kurden und die IS-Anhänger. Sie kämpften untereinander und alle gegen Assad. Wenn einer durch jemanden in IS-Uniform abgeholt wurde, wusste man, er wurde enthauptet.
Meine Eltern durften mich besuchen, sie mussten den Soldaten allerdings Geld für meinen Unterhalt geben. Danach gelang mir die Flucht in die Türkei.
So kam ich nach Istanbul. Meine Mutter arrangierte eine Ehe für mich, sie schickte mir eine Verwandte hinterher, die ich später muslimisch heiratete. In unserer Kultur ist so etwas sehr wichtig. In dieser Zeit, das war 2014, flüchteten sehr viele Syrer in die Türkei, wir bekamen dort einen Identitätsnachweis. Über einen befreundeten Rechtsanwalt in Syrien hatte ich eine Geburts- und eine Heiratsurkunde erhalten, deren Datum vor meinem angeblichen Tod lag, womit die Eheschließung auch offiziell akzeptiert wurde.
Nicht wirklich. Die Türken sprachen kein Wort Arabisch und so war ich gezwungen, Türkisch zu lernen, was mir nach ungefähr acht Monaten einigermaßen gelang.
(Bülent nickt energisch.)
Wir lebten im Zentrum von Istanbul und ich arbeitete im Textilverkauf. Es kamen sehr viele arabische Kunden auf Shoppingtour in den Basar. Dort lernte ich die Sprache.
Meine älteste Tochter wurde geboren und wir schlugen uns mehr schlecht als recht so durch.
Ja. Leider. Es ging sogar so weit, dass die Lehrer und der Rektor während eines Elternabends auf meine Tochter und Syrer allgemein geschimpft haben. Sie war sehr verletzt. Dies war der Tropfen auf dem heißen Stein. Ich beschloss, nach Deutschland weiter zu fliehen, von dem ich gehört hatte, dass meine zwei Töchter dort in Ruhe zur Schule gehen könnten, denn alles, was ich tue, ist nur für meine Kinder.
Nein. Das ist sehr gefährlich, ich wollte meiner Familie dieses Risiko nicht zumuten, deshalb hörten wir uns um und fanden Leute, die eine Fahrt über Land organisierten. Wir gaben ihnen Geld und wurden zusammen mit vielen anderen in einen Transporter gesteckt, der uns nach Bulgarien, später nach Ungarn brachte.
Es war sehr kalt, wir bekamen kaum Luft und meistens nichts zu essen und zu trinken. Oft mussten wir aussteigen und sehr lange durch Wälder laufen, manchmal wurden wir auch abgefangen und wieder zurückgeschickt. Zurück über die Grenze und woanders wieder hinüber. Meine Kinder waren sehr krank, zwei Frauen von ‚Ärzte ohne Grenzen‘ halfen ihnen, eine Amerikanerin und eine Italienerin.
Was mich wunderte: An der grünen ungarischen Grenze sah ich Afghanen, Libyer, Syrer, Bulgaren, Marokkaner, Ungarn… eine wild gemischte Truppe. Alle bewaffnet.
Schließlich kamen wir mit einem Transporter über die polnische Grenze in Deutschland an, verfolgt von vielen Polizeiwagen. Von einem wurden wir zuletzt seitlich gerammt. Einige Erwachsene fielen dabei über meine Tochter, aber zum Glück passierte nichts Schlimmes. Wir waren mitten in einem Wohngebiet gelandet, 31 Personen, darunter Kinder und sogar Säuglinge. Völlig ausgehungert standen wir da, als uns plötzlich Leute aus den umliegenden Häusern zu essen und zu trinken brachten. Wie ich später hörte, kam dies sogar in den Nachrichten.
Ja. Mit der Geburtsurkunde konnte ich meine Identität nachweisen. Damit bekamen wir einen vorläufigen Aufenthaltstitel. Im Moment warte ich auf die Übersetzung und Anerkennung meiner Zeugnisse und hoffe, dass ich damit in meinem Beruf arbeiten kann. Sehr gerne im Technikbereich. In der Zwischenzeit mache ich ein Pflegepraktikum in einem Altersheim, das mir von der Arbeitsagentur vermittelt wurde.
Sie konnte bisher nicht arbeiten, weil wir niemanden für unsere beiden Töchter hatten. Aber jetzt gehen sie in den Kindergarten bzw. zur Schule und meine Frau kann einen Sprachkurs machen.
Ja, sehr. Die Leute sind so hilfsbereit und unterstützen uns in vielen Bereichen. Ich habe auch schon anderes gehört von anderen Orten. Wir haben Glück gehabt. (Er lächelt). Meine Kinder reden zuhause deutsch und machen sich über mich lustig, sagen mir, ich müsste besser sprechen lernen. Leider musste ich sehr lange auf einen Sprachkurs warten, aber jetzt bin ich dabei. Ich hoffe, dass ich mit besserer Verständigung und guter Arbeit die Chance bekomme, hier bleiben zu dürfen.
Ich hoffe es. 2013 wurde mein Onkel auf offener Straße erschossen. Meine Familie hat wie so viele andere sehr gelitten. Ich wünschte mir, dass es gelänge, aber es wird schwierig werden. Es gibt unterschiedliche Strömungen, die Aleviten, die Moslems, die Kurden, und jede Gruppierung will eigenständig werden. Sie alle unter einen demokratischen Hut zu bekommen, bedeutet eine Mammutaufgabe. Außerdem ist da noch Israel. Man weiß nicht, was von dort noch kommt.
Ja. Ich habe hier persönlich noch nie Fremdenfeindlichkeit verspürt, aber ich bekomme die Stimmung im Land natürlich mit. Meine Bitte wäre: Werft nicht alle Moslems in einen Topf. Wenn etwas Schlimmes geschieht, ist immer der Islam schuld. Es ist aber nicht der Islam. Es sind die Menschen, radikalisierte Menschen, die aus irgendwelchen Gründen für sich, nicht für die Religion kämpfen. Ich bin auch ein Moslem, aber ich will nichts weiter als in Ruhe leben, so wie viele andere auch.