Große Technologiekonzerne dominieren die digitale Infrastruktur – vom Betriebssystem, über die Suche bis zur Kommunikation. Karin Nachtigal hat sich bewusst dafür entschieden, sich aus dieser Abhängigkeit zu lösen.
Bei einer Veranstaltung des Grünen-Ortsverbands Wiesloch stellte Nachtigal ihr Konzept „Unabhängig von Big Tech“ vor – und zeigte, wie digitale Selbstbestimmung im Alltag möglich wird.
Der Auslöser für ihren Schritt war Anfang 2025 eine Entscheidung von Meta, bestimmte Begriffe wie „Democracy“, „Abortion“ oder „Diversity“, die Donald Trump nicht genehm sind, vorübergehend auf Instagram zu blockieren – und damit aktiv Einfluss auf öffentliche Debatten nahm. „Das hat mir deutlich gemacht, wie viel Macht diese Plattformen über unsere Kommunikation haben“, sagte Nachtigal. In der Folge verabschiedete sie sich vollständig von Meta-Diensten – inklusive Facebook, Instagram und WhatsApp – und begann, konsequent auf datensparsame und datenschutzkonforme Alternativen zu setzen.
„Es gibt Dekrete, die einfach willkürlich erlassen werden, wie etwa den Patriot Act oder die Cloud Act, die Zugriff auf Daten erlauben, selbst wenn die Rechner in Europa stehen. Dabei landet alles, was wir online preisgeben, als Trainingsmaterial in KIs. Dadurch erhalten Tech-Milliardäre, die überhaupt nicht politisch legitimiert sind, sehr viel Macht“, erläutert Nachtigal. Heute nutzt sie unter anderem ein auf Linux basierendes Betriebssystem, speichert Daten in einer privaten Nextcloud und verwendet statt Google Suchmaschinen wie Startpage oder Qwant. Für Social Media ist sie auf Plattformen im sogenannten Fediverse aktiv – darunter Mastodon, Pixelfed und Friendica. Diese Dienste sind dezentral organisiert, werbefrei und verzichten auf Nutzerdaten-Tracking. Fediverse ist ein Kofferwort aus „federated“ und „universe“ zu Deutsch: „förderiertes Universum“. „Das meiste funktioniert überraschend gut“, betont Nachtigal. Selbst Zwei-Faktor-Authentifizierung, Onlinebanking und Steuererklärungen seien mit diesen freien Anwendungen problemlos machbar.
Das Fediverse bezeichnet ein Netzwerk offener, föderierter Plattformen, das auf freien Protokollen basiert. Anders als Facebook oder X (ehemals Twitter) gibt es dort keine zentrale Instanz, sondern viele unabhängige Server, die miteinander kommunizieren. Ein Mastodon-Account erlaubt beispielsweise auch Interaktionen mit Nutzenden von Pixelfed oder PeerTube. „Diese Vernetzung ohne zentrale Kontrolle ist eine echte Alternative“, sagt Nachtigal. Betreiber solcher Plattformen handeln oft gemeinwohlorientiert, die Finanzierung erfolgt über Spenden – nicht über Werbung oder Datenhandel. So wurde Mastodon als gemeinnütziges Unternehmen gegründet.
Zentrale Voraussetzung für digitale Unabhängigkeit ist aus Nachtigals Sicht die Fähigkeit, Alternativen zu kennen – und sich bewusst für sie entscheiden zu können. „Viele wissen gar nicht, dass es kostenlose, datensparsame Angebote gibt, die genauso gut funktionieren wie die marktbeherrschenden.“ Bildungsarbeit sei daher essenziell – an Schulen, in der VHS oder in Repair-Cafés. Positiv hebt sie ein Projekt des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) hervor: Dort sollen Studierende künftig eigene Mastodon-Accounts erhalten. „Das ist ein starkes Signal in Richtung digitale Souveränität an Bildungseinrichtungen.“ Ihre Recherchen führten letztendlich zum Kontakt mit der KIT selbst und auch auf die Arbeit von IT-Sicherheits-Spezialisten Mike Kuketz. Kuketz ist Lehrbeauftragter an der DHBW Karlsruhe und stellt 30 Tipps vor, um sich digital unabhängig aufzustellen (siehe Infokasten).
Kritisch sieht Nachtigal die digitale Kommunikation öffentlicher Stellen. Viele Kommunen veröffentlichen Informationen vorrangig auf Facebook – teils ohne barrierefreie Alternativen. Wer keinen Account hat, bleibt außen vor. Das sei weder inklusiv noch mit der DSGVO vereinbar.
Ein positives Beispiel sei der Rhein-Neckar-Kreis, der Meldungen parallel über Mastodon veröffentlicht – werbefrei, ohne Tracking, offen zugänglich. Nachtigal wünscht sich, dass auch andere Städte diesen Weg einschlagen.
Barbara König, Vorstandsmitglied des Ortsverbands der Grünen in Wiesloch, nahm die Impulse auf und betonte, dass Datenschutz kein rein technisches Thema sei: „Es geht um Teilhabe, Transparenz und demokratische Kontrolle.“ Kommunen müssten digitale Infrastruktur so gestalten, dass niemand ausgeschlossen werde. Die Veranstaltung war zugleich Auftakt einer neuen Reihe, mit der die Grünen in Wiesloch drängende gesellschaftliche Fragen in kreativen Formaten aufgreifen wollen. Geplant sind unter anderem Filmabende, Theateraktionen, Workshops und Diskussionen zu Themen wie Wohnen, Migration, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. „Wir wollen keine starren Positionen reproduzieren, sondern Debatten ermöglichen“, sagte König. Auch die heutige Veranstaltung verstehe sich als Einladung zum Dialog – und als Signal, dass Veränderung möglich ist.
Zum Abschluss rückte König noch einmal die strukturellen Probleme in den Fokus. Über 95 Prozent der Betriebssysteme weltweit stammen von Microsoft, Google oder Apple – eine Marktkonzentration, die ganze Gesellschaften von wenigen US-Unternehmen abhängig macht. Gleichzeitig ermöglicht der US-Cloud-Act amerikanischen Behörden Zugriff auf Daten, selbst wenn sie auf EU-Servern gespeichert sind. Auch die Funktionsweise sozialer Medien berge Risiken: „Was wir sehen, ist nicht das, was wir suchen – sondern das, was uns am längsten auf der Plattform hält.“ Algorithmen bevorzugen Inhalte, die emotionalisieren, polarisieren – und damit oft auch Desinformation befördern. „Karin Nachtigal gibt uns Alternativen an die Hand, die uns allen offenstehen. Wenn wir entscheiden: Ja, das betrifft mich auch“, sagte König. (dj)
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