Von Joachim Klaehn
Gefühlt taucht fast in jedem Satz über die MLP Academics Heidelberg – ob in den Print- oder Onlinemedien oder auch in den sozialen Netzwerken – das Wort „Wahnsinn“ auf. Spätestens seit dem frühen Sonntagabend ist die Basketball-Community elektrisiert. Und ja: Man muss sich schon mehrmals schütteln, um zu realisieren, dass ein sportliches Wunder wahr geworden ist. David Heidelberg schlägt Goliath FC Bayern Basketball in dessen neuer Heimstätte mit 95:90 (45:48) und schafft das, was vielen EuroLeague-Vertretern nicht im SAP Garden gelingen wollte.
Bayern: Zu viel Laissez-faire
Eine Mannschaft, 11.500 Besucher in einer ausverkauften Halle, eine Basketball-Hochburg wie München – sie scheinen allesamt unter Schock zu stehen. Der ehemalige Speyerer Elias Harris brachte das Malheur aus Sicht des malträtierten Meisters gut auf den Punkt: „Wir haben Heidelberg zu viele Freiheiten gelassen. Dinge, die wir wissen, aber dann auch umsetzen müssen.“ Das gilt vor allem für die Laissez-faire-Defensive der Bayern. 95 Punkte zu Hause zu kassieren, ist eben ein großes Risiko. Und davon allein 31 Punkte den Academics im letzten Viertel zu gestatten, ist fast schon grob fahrlässig. Die Ansammlung von Stars bleiben in dieser Spielzeit ein Mysterium: Die Herbert-Schützlinge verspielten ihre gute Ausgangsposition in der EuroLeague, sie verzockten sich im Pokal-Halbfinale gegen den SYNTAINICS MBC im Februar und sie ließen vor heimischem Publikum eine Mannschaft wie die MLP Academics gewähren, die gerade auf einer Erfolgswelle surft und aus vielerlei Gründen nichts zu verlieren hat.
Es ist sonnenklar, dass Kapitän Vladimir Lucic und seine Teamkameraden am Mittwochabend (20 Uhr/live ab 19.45 Uhr bei Dyn) im ausverkauften SNP dome ganz anders auftreten werden. Sonst könnte sich der Hauptrunden-Primus weitere unliebsame Probleme aufhalsen. Ein 2:0 in der Serie für die mutigen „Akademiker“ würde die Herausforderung erheblich erschweren – das wissen alle Beteiligten. Denn mit jedem weiteren Nadelstich wächst das Selbstvertrauen des Außenseiters – und gleichzeitig nehmen die unterschwelligen Zweifel beim Arrivierten zu.
Unbeschwert und entschlossen
Heidelberg kann und wird sich einer alten Fußballer-Weisheit bedienen: Wir haben keine Chance, aber die wollen wir nutzen! Es ist jene Mischung aus Unbeschwertheit, Entschlossenheit und Behauptungswillen, die im Mannschaftssport „Wunder“ Wahrheit werden lässt. Die MLP Academics haben den hochkarätig besetzten Bayern die Show gestohlen und den Heimvorteil „stibitzt“, also darf man weiterträumen. Na klar, warum denn auch nicht?!
Das ist die eine Seite der Medaille, die andere ist die latente Gefahr der Selbstüberschätzung. Um es klar festzuhalten: Am Favoritenstatus der Bayern-Riesen hat sich trotz des 0:1 nichts geändert. Sie müssen ausgleichen – und schon kippt die Sache in die richtige Richtung für das Starensemble von Gordon Herbert. Überbewerten darf man das 95:90 für die Kurpfälzer nämlich nicht. In einer Serie kann jedes Match vollkommen anders verlaufen. Letztendlich geht es darum, jeweils den richtigen Weg zu finden, um die Spiele zu gewinnen. Ob vom Sprungball weg, ob in der Crunchtime - der Zweck heiligt die Mittel.
Personell sind beide Kontrahenten angeschlagen. Bei den Heidelbergern fehlen schon länger Center Osun Osunniyi und auch Forward Mateo Seric. Die Münchner müssen auf Carsen Edwards (Rückenverletzung), Oscar da Silva (Innenband) und Ivan Kharchenkov verzichten. Außerdem knickte Big Man Devin Booker beim Duell in der Box mit Paul Zipser kurz vor der Halbzeit (41:40-Zwischenstand) um, sodass sein Einsatz am Mittwochabend in Heidelbergs „Spaßtempel“ zumindest fraglich erscheint.
Reichen die Kräfte im SNP dome?
Die entscheidenden Fragen werden sein: Können die MLP Academics um ihre überragenden drei Amerikaner Ryan Mikesell, DJ Horne und Michael Weathers erneut solch eine famose Leistung wie im ersten Match aufs Parkett zaubern? Vermag der einzige Center-Hüne Marcel Keßen ähnliche Glanzlichter wie am Sonntag zu setzen? Wird die relativ kleine Sechser-Rotation (mit den Back-ups Erol Ersek, Andrew O’Brien und Niklas Würzner) das kräftemäßig drei Tage später hinbekommen? Und treffen die Heidelberger wieder so exzellent? 61 Prozent Zweierquote und 57 Prozent Dreierquote wie in München sind außergewöhnliche Zahlen …
Deshalb ist vorhersehbar, wo die Bayern-Profis den Hebel ansetzen. Ihre kompromisslose Defensive - und generell physische Präsenz – wird darauf ausgerichtet sein, den stürmischen Jungs vom Neckar vom Tip-off weg den Wind aus den Segeln zu nehmen. Nichts anderes als gesunde europäische Härte ist auf BBL-Halbfinallevel vorprogrammiert.
Für Mikesell und Co. geht es um den sportlichen Fokus. Die neuesten Nachrichten in der hiesigen Regionalzeitung RNZ zum aufkeimenden Thema FIBA Champions League sind interessant, aber im Grunde genommen Zukunftsvision. Die Anträge für die „Königsklasse“ liegen vor und sollen laut Academics-Geschäftsführer Matthias Lautenschläger demnächst eingereicht werden: „Das ist eine riesige Herausforderung für uns, aber natürlich auch eine super Gelegenheit, uns weiter zu etablieren.“
Randthema „Königsklasse“
Als Playoff-Halbfinalist ist Heidelberg für die Saison 2025/2026 der FIBA Champions League qualifiziert. Ob Mannschaft wie Organisation strukturell und finanziell darauf vorbereitet sind, steht unterdessen auf einem anderen Blatt. Erst einmal zählt der weitere Verlauf der Best-of-five-Serie gegen den nationalen Champion.
Die badisch-bayrische Dramaturgie könnte genügend Erzählstoff bieten – der szenische Einstieg ins BBL-Halbfinale hätte im Olympiapark der Isarmetropole am Sonntag nicht prickelnder ausfallen können.
Fernsehen:
Die Partie wird ab 19.45 Uhr live bei Dyn übertragen.