Einige Zuschauer, die am 19. und 20. Juli 2024 in der Aula des GyDos saßen, waren sicherlich überrascht von den ersten Minuten der Darbietung der diesjährigen Abschlussschülerinnen des Wahlfachs Literatur und Theater. Regungslos saßen und standen die sieben Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne und aus den Lautsprechern ertönte „I don’t want to grow up“ von Tom Waits bzw. den Ramones. Unter der Kursleitung von Wibke Moog hatten vier Schauspielerinnen die Tragödie „Antigone“ von Jean Anouilh interpretiert und inszeniert. Ursprünglich von Sophokles, ist „Antigone“ eine der ältesten Tragödien der Welt: Die Tochter des Ödipus will ihren im Kampf um Theben gefallenen Bruder Polyneikos bestatten und gerät darüber in Konflikt mit dem Herrscher von Theben. In Anouilhs moderneren Verfassung von 1942 steht Antigone dann vor allem für trotzige Selbstbehauptung der Jugend gegen eine rationale Erwachsenenwelt.
„When I see the price you pay, I don’t want to grow up“ – Antigone wehrt sich auf der Bühne gegen einlullende Versuche ihrer Amme, die ihre „Starrköpfigkeit“ bedauert; und sie weigert sich, alles einfach hinzunehmen – „Ich will nicht verstehen“, schmettert sie ihrer Schwester Ismene entgegen. Man hat das Gefühl, dass weder diese noch ihr Geliebter Hämon, für den sie „eine kleine Närrin“ ist, Antigone wirklich nahe sein können. „Comb their hair and shine their shoes – I don’t want to grow up“ – Antigone zeigt sich mal trotzig kindisch naiv, mal auflehnend willensstark – auf alle Fälle möchte sie keinen Erwartungen entsprechen. Ihr Gegenüber ist Königin Kreone, die mit Anzug und Laptop für Rationalität und eine vernünftige Ausübung ihres Berufs „Königin“ steht. Doch weder Kreones Argumente noch ihr Drohen können die gummibärchenkauende Antigone davon abbringen, ihren Bruder zu bestatten. Am Ende stirbt nicht nur Antigone, auch Kreone wird zur tragischen Figur – „Keinem bleibt etwas erspart“, schließlich sei es ja das Praktische an der Tragödie, dass das Ende eigentlich zu Beginn schon klar ist, wie der Sprecher erklärt.
Für die Zuschauer, aber vor allem die jungen Darstellerinnen war nicht nur die Metaebene des Stücks in Gestalt des erklärenden und vorausdeutenden Sprechers herausfordernd. In „Antigone“ wird argumentiert, diskutiert und reflektiert, was bedeutet, dass die Darsteller (zwei Lehrer und eine Schülerin unterstützten das vierköpfige LTh-Ensemble) vor allem durch viel Text in Dialogen und Monologen und weniger mit Handeln auf der Bühne wirkten: Die naive Furcht der Wächterin, Antigones Zerrissenheit, Ismenes Angst und Kreones Dilemma zwischen familiärer Pflicht und Staatsraison – große Gefühle zeigten die Darstellerinnen mit Worten und einzelnen bedeutungsvollen Gesten: Da bedeutet ein Sitzplatzwechsel eine klare Verschiebung der Machtverhältnisse, zumindest für den Moment.
Am Ende der Vorstellung bedankte sich Wibke Moog bei allen helfenden Händen und vor allem ihrem Kurs. Eine anstrengende aber auch schöne Zeit liege hinter ihnen. Die Schülerinnen setzten sich im Wahlfach intensiv mit Literatur und Theater auseinander. Was heißt es „verrückt sein“? Was heißt „erwachsen handeln“? Sollte man wirklich „ein Kind bleiben können“? Mit Anouilhs „Antigone“ hatte sich das Wahlfach LTh diesen Fragen angenommen und die ehemaligen Abiturientinnen verabschiedeten sich eindrucksvoll mit zwei Vorstellungen.