Seit 2019 ist sie Stuttgarts Sozialbürgermeisterin und leitet das Referat für Soziales, Gesundheit und Integration. Am 12. Oktober hielt Dr. Alexandra Sußmann eine Begrüßungsrede zum 2. Forum für Gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Stuttgarter Liederhalle. Im anschließenden Interview gab sie unter anderem Einblicke in die Bedeutung des Ehrenamts.
nussbaum.de: Frau Dr. Sußmann, welche Erfahrungen haben Sie selbst mit ehrenamtlicher Arbeit gemacht?
Dr. Alexandra Sußmann: Während Corona und während der Flüchtlingsphase haben wir sehr viel mit Ehrenamtlichen zusammengearbeitet. Und sie waren die Voraussetzung dafür, dass es uns gelungen ist, einer schwierigen Situation Herr zu werden. Deswegen sind wir permanent mit Ehrenamtlichen im Austausch. Sie sind das Fundament unserer Stadt und ermöglichen vieles, was wir als Verwaltung gar nicht können.
nussbaum.de: Und wie unterstützt Stuttgart das Ehrenamt aktuell?
Dr. Sußmann: Mit unserer Freiwilligenagentur, indem wir auf unserer Homepage alle zusammenbringen, Netzwerke schaffen, aber auch über die ehrenamtlichen Strukturen beraten, die es in der Stadt gibt. Wenn möglich, stellen wir Aufwandsentschädigungen zur Verfügung, zum Beispiel für die Dolmetscherinnen und Dolmetscher, die wir für ukrainische Geflüchtete eingesetzt haben. Diese Möglichkeiten schaffen wir, um das Arbeiten von Ehrenamtlichen zu erleichtern.
nussbaum.de: Welche zivilgesellschaftlichen Probleme sind Ihrer Meinung nach akut?
Dr. Sußmann: Der Verlust des Miteinanders. Jeder lebt sehr in der eigenen Bubble, ist auf sich fokussiert und nimmt sein Gegenüber weniger wahr. Das fällt uns in einer Stadt wie Stuttgart stärker auf. Wir haben eine große Anonymität und es ist beispielsweise nicht mehr selbstverständlich, dass man seinem Gegenüber hilft, in die S-Bahn einzusteigen, solange man selbst versorgt ist. Es ist ein Grundthema, dass wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt sind und darüber hinaus gar nicht sehen, was um uns herum passiert.
nussbaum.de: Was kann auf städtischer Ebene dagegen getan werden?
Dr. Sußmann: Veranstaltungen wie das Forum für Gesellschaftlichen Zusammenhalt sind wichtig, um ins Bewusstsein zu rufen, wie großartig es ist, sich ehrenamtlich zu engagieren. So wird positiv verknüpft, dass Ehrenamt etwas ist, wovon alle profitieren, denn es schafft Gemeinsinn, Identifikation und Sinnhaftigkeit. Zusätzlich können wir informieren. Schon im Schulalter können Menschen informiert werden, was es alles gibt und immer mit gutem Beispiel vorangeht und zeigt, was alles möglich ist.
nussbaum.de: Welche langfristigen Ziele hätten Sie aus städtischer Sicht, gesellschaftliches Engagement zu fördern und auch zu stärken?
Dr. Sußmann: Auf lange Sicht wie auf kurze Sicht. Wir wollen es dauerhaft erhalten und natürlich auch Dinge verstetigen. Aber es gibt eine gewisse Tendenz, sich nicht mehr so lange festzulegen. Die Menschen sind zwar bereit, sich zu engagieren, aber wollen nicht auf Jahre in ein Ehrenamt und dann nicht mehr die Möglichkeit haben herauszukommen, weil es keine Nachfolge gibt. Darauf müssen wir uns einstellen.
Wir haben eine neue, flexiblere Gesellschaft. Vor allem junge Menschen brauchen flexiblere Lösungen und dafür brauchen wir Möglichkeiten. Dass es leichter wird, sich vielleicht tageweise zu engagieren und auch Verständnis dafür zu haben, dass manche sagen, das passt jetzt nicht in ihr Lebensmodell. Aber langfristig sollte das Ehrenamt eine feste Säule der Zivilgesellschaft sein und sollte auch als solche stärker wahrgenommen werden.
nussbaum.de: Stichwort Zivilgesellschaft: Was kann jeder und jede dafür tun, diese zu stärken und sich zu engagieren?
Dr. Sußmann: Es beginnt damit, wahrzunehmen, wer um einen herum lebt. Es beginnt damit, achtsam zu sein, wenn ein älterer Mensch im Haus lebt. Es beginnt damit, Menschen im öffentlichen Verkehr die Tür aufzuhalten. Schon mit kleinen Schritten geht es los. Es ist bereits ein Dienst am anderen, mit kleinen Gesten füreinander einzustehen und aufeinander zu achten.
Die Fragen stellte Patrick Schunk