Mirwais Wafa ist 28 Jahre alt und tritt als Bundestagskandidat für die FDP im Wahlkreis Odenwald-Tauber an. Im Zuge der Vorberichterstattung zur Bundestagswahl konnte die Redaktion des Mosbacher Stadtanzeigers mit ihm ins Gespräch kommen.
Mosbacher Stadtanzeiger (MS): Was sind Ihrer Meinung nach die größten Sorgen der Menschen in Ihrem Wahlkreis?
Mirwais Wafa: Ich habe in den letzten acht Monaten mit Landwirten gesprochen, mit Bürgern, Mittelständlern und jungen Menschen. Die Sorgen sind vielfältig. Die Menschen fragen sich: Wie geht es weiter?
Wir hatten und haben eine hohe Inflation. Unserer Wirtschaft geht es immer noch nicht gut. Wir haben einerseits Bürokratiehürden, die sehr hoch sind – aus Berlin, aus der Landesebene und auch aus Brüssel. Es braucht viel Zeit, um den Berichtspflichten nachzukommen, die teils keinen Sinn und Zweck haben. Und dazu kommt natürlich das Thema Steuern. Unser Mittelstand, unsere arbeitende Bevölkerung zahlt viele Steuern und können sich nicht viel leisten. Sie arbeiten 40 oder 42 Stunden in einer Woche, Vollzeit, aber trotzdem bleibt nicht viel.
Ich bin Mitglied der FDP, aber weder reich noch in Wohlstand geboren. Im Jahr 2012 bin ich nach Deutschland eingewandert und hier zur Schule gegangen. Als ich ankam, sprach ich kein Wort Deutsch und wusste nicht, wie es für mich weitergeht. Also habe ich zunächst meinen Hauptschulabschluss gemacht – und anschließend das Abitur am Technischen Gymnasium in Bad Mergentheim, weil ich studieren wollte.
Ich habe Politikwissenschaft studiert und schreibe derzeit meine Masterarbeit – neben meinem politischen Engagement. Während meiner Oberstufenzeit und im ersten Jahr meines Bachelor-Studiums habe ich in den Sommerferien als Helfer in der Produktion bei mittelständischen Unternehmen gearbeitet. Ich weiß, wie hart diese Arbeit ist. Viele Menschen in diesen Berufen verdienen weniger als 3.000 Euro im Monat – und die Steuern und Abgaben sind für sie enorm hoch. Deshalb setzen wir uns als Freie Demokraten für Steuererleichterungen für alle ein. Mein konkreter Vorschlag: Steuerfreie Überstunden. Wer bereits 40 Stunden pro Woche arbeitet und freiwillig mehr leistet, sollte für diese Überstunden keine zusätzlichen Steuern zahlen müssen. Leistung muss sich wieder lohnen! Wenn jemand hart arbeitet und sich ein Auto, einen Laptop oder etwas anderes leisten möchte, dann sollte er die Möglichkeit haben, durch Überstunden gezielt mehr zu verdienen – ohne dass der Staat einen Großteil davon einbehält. Es geht um Leistungsgerechtigkeit!
Gleichzeitig geht es auch um unsere Unternehmen. Unser Mittelstand leidet unter hohen Steuern und Energiepreisen. Daher ist es wichtig, dass wir Energiepreise wieder reduzieren und dass wir dafür sorgen, dass die Unternehmenssteuer auf 25% reduziert wird.
Sonst sind wir nicht konkurrenzfähig mit anderen Staaten. Hinzu kommt auch die Herausforderung, die uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten begleiten wird, das ist die Dekarbonisierung.
MS: Was würden Sie im Rückblick auf die vergangenen vier Jahre als bisher größten erzielten Erfolg für die Region bezeichnen und wo sehen Sie aktuell den dringendsten Handlungsbedarf?
Wafa: Die Ampel hat ein sehr negatives Bild, aber wir haben viel erreicht. Wir haben zwei Drittel unserer Forderungen im Koalitionsvertrag umgesetzt und das ist sehr viel. Das letzte Drittel wollte man bis 2025 umsetzen. Wir haben ein Sondervermögen beschlossen für die Bundeswehr 100 Milliarden Euro, um unsere Sicherheit und Freiheit in Europa zu sichern und gleichzeitig die Ukraine zu unterstützen. Wir haben dafür gesorgt, dass die ukrainischen Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen müssen, bei uns in Deutschland einen sicheren Hafen haben. Und das haben wir auch. Auch im Thema Migration haben wir viel erreicht, aber es sind viele Themen noch offen für die Region.
In erster Linie sind wir wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig. Unsere Produkte sind extrem besteuert und gleichzeitig kommt der Strukturwandel. Dazu kommt: Viele Gemeinden sind extrem belastet, weil sie auf einmal viele Menschen aufnehmen mussten. Wie wollen wir hier unsere Gemeinden entlasten? Da kam leider noch nicht viel aus Berlin. Man hat falsche Prioritäten gesetzt in der Migrationsfrage. Gleichzeitig haben auch Themen wie zum Beispiel die Wärmepumpe viele Menschen verärgert. Wir wollen natürlich Klimaschutz, und um das zu erreichen, müssen wir auch die Menschen mitnehmen. Wir haben eine Energiekrise und diese war durchaus selbstverschuldet, weil wir mitten in der Krise die Atomkraftwerke abgeschaltet haben. Zusätzlich gab es kein Gas mehr aus Russland, und was dann? Da mussten wir sehr schnell Entscheidungen treffen. In diesem Punkt haben wir die Krise gut abgewendet. Putin wollte, dass Deutschland und Europa extrem Schaden nehmen, aber wir haben das geschafft als Bundesrepublik.
Ich bin gerade kein Abgeordneter, aber ich war viel unterwegs und die Landwirte waren extrem sauer, weil sie sich alleine gefühlt haben. Die Mittelständler haben sich alleine gefühlt. Die Bürger haben sich alleine gefühlt und auch die Alleinerziehenden haben sich alleine gefühlt. Da muss man sich doch Zeit nehmen, um mit Bürger zu sprechen und die Probleme auch in Berlin zu adressieren, unabhängig von der Partei. Und das ist in den letzten vier Jahren überhaupt nicht passiert. Wo sind die Antworten und warum setzt sich niemand für uns ein? Am 23. Februar dürfen wir eine Entscheidung treffen und da wäre es richtig und wichtig, dass man mehrmals darüber nachdenkt, wen man nach Berlin schickt.
MS: Die (Neu-)Verschuldung der Kommunen steigt rasant an. Gerade kleinere Kommunen haben es immer schwerer. Braucht es neue Finanzierungsmodelle für die Kommunen?
Wafa: Absolut. Das Thema Migration belastet die Kommunen extrem. Hinzu kommen weitere Aufgaben in den Bereichen Sicherheit und Infrastruktur. Strukturwandel braucht Geld, Strukturwandel braucht Unterstützung. Und da hoffe ich, dass wir bei der nächsten Bundesregierung auch die Maßnahmen und Gesetze beschließen, dass wir gezielt Kommunen und kleine Gemeinden unterstützen, auch im Bereich Migration/Integration von Flüchtlingen.
Dass Menschen zu uns kommen, hat positive und negative Seiten, aber momentan werden die Kommunen damit allein gelassen und müssen die Kosten zum großen Teil übernehmen. Daher ist es wichtig, dass wir die Kommunen entlasten und für Fortschritt sorgen, wie auch im Bereich Digitalisierung. Hier im Main-Tauber-Kreis existieren immer noch große Funklöcher.
Wenn das Telefonat abgebrochen wird und ich später zurückrufen muss, ist das nicht gut, gerade weil ich auch auf internationaler Ebene unterwegs bin, bei den Vereinten Nationen. Ich spreche sehr viel mit Menschen aus anderen Ländern. Wenn unsere Internetverbindung nicht funktioniert, dann haben sie den Eindruck: Deutschland, ihr müsst noch sehr viel tun.
Gerade in Digitalisierung und Infrastruktur brauchen die Gemeinden und Kommunen Unterstützung und Entlastung. Aber das ist auch viel Landespolitik. Darüber wird auf jeden Fall auch nächstes Jahr bei den Landtagswahlen gesprochen. Straßen, Brücken – All das braucht Sanierung und da können wir die Gemeinden nicht alleine lassen.
MS: Mieten, Lebensmittel, Energiekosten – die Preise in diesen Bereichen bleiben nach wie vor auf hohem Niveau. Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um die Preise wieder zu senken?
Wafa: Wir brauchen eine Wirtschaftswende. Wir brauchen Konkurrenzfähigkeit. Wenn wir unseren Mittelstand, die Bürger wieder entlasten, wenn wir eine neue Dynamik in unserer Wirtschaft aufbauen, dann bin ich mir sicher, dass die Inflation wieder abnehmen wird. Gleichzeitig werden die Löhne steigen und die Menschen können sich wieder etwas leisten. Ich bin dagegen, dass man von oben herab sagt: Wir brauchen einen Mindestlohn von 15 Euro. Schließlich gibt es viele Unternehmen, die sogar mehr als Mindestlohn zahlen. Ich finde es nicht in Ordnung, dass es alle vier Jahre eine Debatte darüber gibt, welchen Mindestlohn die Bundesregierung beschließt. Das sollen die Unternehmerinnen und Unternehmer tun.
Natürlich ist die Miete auch in unserem Wahlkreis ein Problem. Noch drastischer ist es allerdings in den Großstädten. Wir müssen einerseits mehr Wohnungen bauen. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass sich auch Familien und junge Menschen ihren Traum vom Eigenheim erfüllen können. Also auch, die Möglichkeiten zu schaffen, damit Unternehmen auf dem freien Markt ebenfalls bauen und das Angebot erhöhen. Der Traum vom Eigenheim existiert in den jüngeren Generationen gar nicht mehr. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Generation auch wie die unserer Eltern und Großeltern optimistisch denken kann oder auch die Möglichkeiten haben, ein Eigenheim zu besitzen. Daher fordern wir auch, den Spitzensteuersatz, der momentan bei 68.000 Euro greift, auf 96.000 Euro anzuheben. Unsere Ärzte und Ingenieure sind nicht die Reichen. Sie arbeiten sehr hart und haben sich ihr Geld verdient. Gerade auch die Familien. Damit entlasten wir die Menschen und sorgen dafür, dass die Familien sich auch etwas leisten können. Es ist wichtig, dass die Leute wieder sparen und anlegen können. Daher appelliere ich: Gehen wir mit unserer Politik nicht an die Sparerinnen und Sparer heran, deren hart verdientes Geld bereits mehrmals besteuert worden ist.
Deshalb ist es auch unser Ziel, die Grundfreibeträge anzuheben. Wir wollen damit erreichen, dass diejenigen, die mehr arbeiten wollen, das auch steuerfrei tun können und unsere Unternehmen entlasten. Das ist das Leistungsprinzip, das wir als Freie Demokraten unterstützen. Aber gleichzeitig: Die Schwächeren müssen wir auch immer unterstützen.
MS: Hunderttausende Arbeitskräfte fehlen, ob in Pflege, Handwerksbetrieben oder an Schulen und Kitas - Tendenz steigend. Wie wollen Sie hier gegensteuern?
Wafa: Wir brauchen legale Migration in den Arbeitsmarkt. Ich bin selbst jemand, der legal nach Deutschland eingewandert ist. Viele Menschen, die legal nach Deutschland einwandern wollen, müssen sich mit sehr viel Bürokratie herumschlagen und viele können das einfach nicht. Wir haben viele Menschen, die aus anderen EU-Staaten nach Deutschland kommen und trotzdem werden ihre Abschlüsse nicht anerkannt. Einer Lehrerin aus Spanien wird in Deutschland der Abschluss nicht anerkannt. Und das ist doch das Problem, da müssen wir doch daransetzen, dass wir die Möglichkeiten schaffen. Dass diejenigen, die aus anderen EU-Staaten oder auch außerhalb der EU nach Deutschland kommen, dass deren Abschlüsse anerkannt werden. Damit schaffen wir die Möglichkeit, dass die Menschen hier mehr und in qualifizierten Positionen arbeiten, um auch sich für unser Land einzusetzen.
Gleichzeitig müssen wir auch denjenigen, die vor Krieg flüchten, Möglichkeiten eröffnen. Ich bin im Krieg geboren worden in Afghanistan. Die Menschen, die eine Schutzbedürftigkeit haben oder Schutz benötigen, müssen wir unterstützen. Ich finde die Debatten darüber, dass man Menschen die deutsche Staatsbürgerschaft wieder entziehen möchte, völlig falsch, weil das überhaupt nicht die Probleme der illegalen Migration löst.
Diejenigen, die in Deutschland sind und die Staatsbürgerschaft haben und sich hier legal aufhalten, die arbeiten auch. Es sind sehr wenige Leute, die aus anderen Gründen nicht arbeiten, und da müssen wir daransetzen, dass auch diese Menschen eine Arbeit finden.
Wir brauchen Fachkräfte, und die Fachkräfte im Arbeitsmarkt müssen wir unterstützen und dafür sorgen, dass ihnen nicht nur die Abschlüsse anerkannt werden, sondern sie sich auch hier wohl fühlen. Wir sind ein weltoffenes Land. Ich habe Migrationserfahrung, aber ich fühle mich als Deutscher. Das ist mein Land. Und man muss nicht in die Politik gehen, um sich dafür einzusetzen. Auch in Unternehmen - die Arbeit im sozialen Bereich, in Krankenhäusern - diese Menschen brauchen wir. Die Problematik der illegalen Migration müssen wir ganz klar von der Einwanderung von Fachkräften ausdifferenzieren.
MS: Was die Wirtschaft zudem zu schaffen macht, ist die überbordende Bürokratie. Gleichzeitig haben viele Versuche, Bürokratie abzubauen, das Gegenteil bewirkt. Was schlagen Sie vor?
Wafa: Unsere Ministerinnen und Minister - von der FDP - haben im Vergleich zu anderen Ministerien in Berlin bereits viel für die Entbürokratisierung getan. Unserer Justizminister Marco Buschmann hat die Justiz entbürokratisiert und von einigem Papierkram befreit. Viele Entbürokratisierungsgesetze wurden in den letzten drei Jahren beschlossen. Aber wir müssen differenzieren: Die Bürokratie, die aus Brüssel kommt, da haben wir wenig Einfluss.
So etwas wie das Lieferkettengesetz schafft viel Bürokratie belastet die Unternehmen und Mittelständler mit Arbeit und Berichtspflichten. Ich bin bei den Vereinten Nationen und ich habe in den letzten Jahren viele Reden zum Klimaschutz gehalten und gehört. Ich habe eine Jugendorganisation auf internationaler Ebene gegründet und dafür gesorgt, dass die Stimmen der jungen Menschen gehört werden. Aber wir machen es uns sehr einfach, wenn wir Gesetze schaffen, die dem Klimaschutz nicht helfen, aber trotzdem unseren Mittelstand und die Unternehmen belastet. Wenn viele Unternehmen und Zulieferer nicht in der Lage sind, sich konkurrenzfähig zu halten, dann fragt man sich wirklich, ob man falsche Prioritäten gesetzt hat. Fair Trade kann man nicht mit Gesetzen durchboxen, die uns selbst nur schaden. Wir denken, wir könnten die Arbeitsbedingungen in anderen Ländern damit verbessern, aber das stimmt nicht. Der Ansatz ist gut, aber die Umsetzung ist falsch. Es braucht andere Prioritäten, um die Entbürokratisierung durchzusetzen. Wir als Freie Demokraten fordern, ein Jahr lang keine Gesetze zu beschließen, die Unternehmen und Mittelständler und auch unsere Wirtschaft belastet. Wir haben so viele Gesetze und Regelungen. Zuerst müssen wir Revue passieren lassen: Welche Gesetze sind effektiv? Welche Gesetze kosten uns nur Zeit und Geld?
MS: Der Deutschen Rentenversicherung zufolge gibt es nach 2030 keine Untergrenze mehr für das Rentenniveau. Gleichzeitig werden junge Menschen historisch hohe Beiträge zahlen müssen. Wie kann die Politik dem begegnen?
Wafa: Wir fordern eine Aktienrente, eine kapitalgedeckte Rente. Nur so können wir das Rentenniveau langfristig stabilisieren und gleichzeitig die Altersarmut bekämpfen. Im Moment gehen viele Menschen in Rente, die Boomer Generation. Wir werden weniger Menschen haben, die in die Rentenkasse einzahlen, aber viele Menschen, die in Rente sind. 2027 wird die Zahlungsunfähigkeit drohen, das heißt, das System funktioniert nicht mehr. Daher haben wir als Freie Demokraten 2023 den ersten Schritt zur Kapitalrente getan und langfristig investiert.
Es behaupten immer noch Leute, dass die Renten sicher sind. Das stimmt nicht, ist eine Lebenslüge, die uns seit den 70er-Jahren erzählt wird. Aber wir wissen schon länger, dass unser Rentensystem nicht länger funktioniert. Im Moment sieht es so aus, als würde unsere Generation leer ausgehen. Da stellt sich die Frage: Was wurde denn in den letzten 30, 40 Jahren gemacht?
Wir müssen doch endlich mal dafür sorgen, dass auch für zukünftige Generationen wichtige Projekte angegangen werden. Das ist zum Beispiel die Aktienrente. Das sind aber auch mehr Investitionen in unseren Straßenverkehr und im Gesundheitswesen.
Das müssen wir mit der nächsten Bundesregierung umsetzen. Denn die Menschen werden noch extremere Parteien wählen, falls sie jetzt in den nächsten zwei Jahren merken: Hey, meine Rente ist nicht sicher, mein Arbeitsplatz ist nicht sicher und dafür muss ich auch noch hohe Steuern zahlen. Dann haben wir ein Problem, bei der nächsten Wahl 2029, das kann der gesamten Politik das Genick brechen.
MS: Deutschland hinkt vor allem im Verkehrssektor seinen Klimazielen hinterher. Welche Schritte sind Ihrer Meinung nach zielführend?
Wafa: Im Verkehrssektor müssen wir abwarten, wie sich unsere Technologien entwickeln. Ich kann als Politikwissenschaftler nicht eine Technologie ausschließen oder eine andere bevorzugen. Das ist nicht meine Kompetenz. Da lassen wir den Markt entscheiden, welche Technologie sich auch in den nächsten Jahren durchsetzt.
Ich vertrete zum Klimaschutz eine realistische Sichtweise. Ja, wir müssen uns für Klimaschutz einsetzen und es ist wichtig, dass wir die Dekarbonisierung einleiten und dafür sorgen, dass so schnell wie möglich auch unsere Industrie decarbonisiert wird. Wir haben schon viel erreicht. Aber vergleichen wir das mit anderen Staaten, dann sehen wir die großen Klimasünder Indien, China und andere Staaten, die überhaupt nichts tun. Die Bundesrepublik Deutschland ist für ungefähr zwei Prozent des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich und hat ein paar Prozent mehr in der Weltwirtschaftsleistung. Das muss man in Relation setzen. Selbst wenn wir von heute auf morgen unser CO2 reduzieren können, retten wir damit nicht die gesamte Welt.
Die Klimaziele der Bundesrepublik Deutschland beinhalten Klimaneutralität bis 2045. Wir fordern, diese Ziele durch das europäische Klimaziel bzw. Klimaneutralität bis 2050 zu ersetzen. Diese fünf Jahre geben uns die Möglichkeit, ohne deutschen Sonderweg und gemeinsam mit anderen EU-Staaten am Ziel zu arbeiten. Ich bin optimistisch: Wenn wir beweisen können, dass unsere Technologie funktioniert und die Sicherheit der Arbeitsplätze und unsere Wirtschaft funktioniert, dann überzeugen wir auch andere Staaten, dass sie auf unsere klimafreundlichen Technologien setzen können. Und dann können wir auch den Klimaschutz mit dem Markt verbinden, anstatt dass sie gegeneinander ausgespielt werden. Klimaschutz und Wirtschaft müssen Hand in Hand gehen.
Ich habe mich kürzlich für Atomkraftwerke ausgesprochen. Ich wurde ausgelacht. Der Grund, warum ich das gefordert habe, war: Wir wollen und müssen uns für Klimaneutralität einsetzen, aber gleichzeitig weigern wir uns als einziger europäischer Staat, Kernkraft als klimaneutral zu betrachten. Wir als Bundesrepublik Deutschland haben diese Verweigerungshaltung und wollen einen Sonderweg gehen, der überhaupt nicht funktioniert, weil wir dadurch auf importierten Kohle- und Atomstrom aus Nachbarstaaten angewiesen sind. E-Autos sind wichtig, aber wenn sie dann mit Strom aus dem Kohlekraftwerk gefahren werden, sehe ich den Effekt nicht.
MS: Populistische Forderungen, Tendenzen zu extremistischen Positionen und Verrohung der politischen Debatte sind in Deutschland immer häufiger zu beobachten – mit welchen konkreten Maßnahmen wollen die Grünen diesem Umstand entgegenwirken?
Wafa: Mit Realismus. Und wir müssen die Probleme der Menschen lösen. Wenn wir nicht in der Lage sind, die Probleme zu lösen, ob es Migration ist, ob es Wirtschaft, ob es Finanzfragen sind, ob es um unser Gesundheitswesen geht, dann fühlen sich die Menschen allein gelassen. Im Moment werden die Ränder immer stärker und es gibt viele Auseinandersetzungen. Ich denke nicht, dass alle, die AfD wählen, Nazis oder rechtsextrem sind. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die sind vor allem enttäuscht. Sie denken, die Politik kommt alle vier Jahre an mit ihren Versprechungen, die nie eingelöst werden. Wir können allerdings nicht hingehen und sagen: Ne, das habe ich gefordert und jetzt hat die AfD dasselbe gefordert, deswegen ziehe ich meine Forderung zurück. Damit stärken wir die Ränder doch nur. Wir können die vielen populistischen Forderungen nicht verdrängen, sondern müssen uns fragen: Was sind die Probleme in diesen Bereichen? Dann werden auch die Menschen im Land mit unserer Politik zufrieden sein und sehen, dass wir nicht nur versprechen, sondern auch liefern.
Ich finde es unverantwortlich, dass wir zulassen, dass Menschen, die unsere Regeln und unser Demokratieverständnis nicht teilen, die sich in Deutschland auf die Straße stellen mit antisemitistischen Parolen - Menschen, die gegen unser gesamtes politisches System sind und deren Asyl auch bereits abgelehnt wurde, sich weiter in Deutschland aufhalten. Das müssen wir mit der Härte des Rechtsstaats und einer Null-Toleranz-Politik bekämpfen. Da dürfen wir uns nicht von rechtsradikalen Forderungen ablenken lassen.
MS: Worin sehen Sie das Scheitern der bisherigen Regierung und was kann die Politik daraus lernen?
Wafa: Die Grundlage der Ampelkoalition war ab dem Moment weg, als der Krieg in der Ukraine begann. Zweitens, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Die Ampelkoalition hatte miteinander vereinbart, Investitionen tätigen zu wollen. Und der Bundeskanzler meinte: Wir haben so viele ungenutzte Mittel aus dem Corona-Fonds, die wir nutzen können. Das wurde vom Bundesverfassungsgericht einkassiert. Da begannen die Probleme. Denn einerseits wollten wir keine Schulden, Schulden helfen uns gar nicht. Wenn Sie nur schauen, was wir jährlich an Tilgung zahlen, was wir an Zinsen zahlen - Das ist für meine Generation unverantwortlich. Das ist nicht vereinbart mit unserem Verständnis von Arbeit und für die Politik.
Und dann war es so, dass Bundeskanzler Olaf Scholz Christian Lindner ein Ultimatum gesetzt hat: Die Schuldenbremse muss ausgesetzt werden oder er ist nicht mehr im Amt. Dann gab es endgültig keine Koalitionsgrundlage mehr. Hätte man sich zusammengesetzt und einen Weg gefunden, dann wären wir auch mit dabei gewesen, dass man gemeinsam sagt: Wir bleiben noch in der Regierung, aber wir wollen eine Neuwahl, um den Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit zu geben, darüber zu entscheiden. Wir haben Unterschiede, aber wir sind trotzdem kollegial und wollen zusammenarbeiten. Als Demokraten müssen wir miteinander reden.
Ich habe selbst, als jemand der nach Deutschland kam - ich habe mir die deutsche Sprache selbst beigebracht - viele Ausgrenzungen erlebt in den letzten 13 Jahren und ich möchte niemanden ausschließen. Eine demokratische Partei sollte das erst recht nicht. Wenn wir nicht miteinander reden, wer soll es sonst tun?