Familiengeschichte einfühlsam beleuchtet

Im Gespräch: Reinhold Beckmann über "Aenne und ihre Brüder"

Reinhold Beckmann hat mit "Aenne und ihre Brüder" seine bewegende Familiengeschichte festgehalten. Im Rahmen seiner Lesetour sprachen wir mit ihm.
Reinhold Beckmann
Hat mit "Aenne und ihre Brüder" ein bewegendes Stück seiner Familiengeschichte festgehalten: Reinhold Beckmann.Foto: Steven Haberland

Es ist der 14. November 2021, Volkstrauertag. Reinhold Beckmann steht im Plenarsaal des Bundestags. Nicht etwa als Journalist oder als Talkshow-Master sondern als Musiker. Mit seiner Band spielt er seinen Song „Vier Brüder“. Ein Auftritt mit Folgen. Ganz konkreten Folgen ...

Reinhold Beckmann und Band: Vier Brüder (live im Bundestag)

Inzwischen schreiben wir 2024 und aus dem Song ist ein Buch geworden – 352 Seiten stark. Es heißt „Aenne und ihre Brüder“. Die Brüder, das sind Franz, Hans, Alfons und Willi. Alle vier wurden Opfer – Opfer von Großmachtswahn, dem Vernichtungsdrang einer Diktatur, die keinen Platz ließ für Freiheit, Opfer eines furchtbaren und sinnlosen Kriegs, dem größten, den es je gab. Und Aenne, ihre Schwester, ist Reinhold Beckmanns Mutter. Sie hat die Geschichte ihrer vier gefallenen Brüder stets lebendig gehalten. Und ihr Sohn hat sich auf die Suche gemacht, um sie neu zu erzählen. Eine Geschichte voller ungelebter Leben, die Geschichte einer kleinen Familie in einem kleinen Dorf am Rande des Teutoburger Waldes, aber auch die Geschichte eines grausamen Kriegs in einer Zeit, über die viele, die damals lebten, auch heute noch schwer Worte finden. Reinhold Beckmann erzählt sie. Wir haben mit ihm gesprochen.

nussbaum.de: Herr Beckmann, was hat Sie dazu inspiriert, die Geschichte Ihrer Mutter und ihrer Brüder zu erzählen?

Reinhold Beckmann: Ich wollte dieses Buch eigentlich immer schon schreiben – ich habe mich nur nicht so recht herangetraut. Nach meinem Auftritt im Bundestag kamen einige Verlage auf mich zu und fragten, ob ich die Geschichte nicht aufschreiben könnte. Da habe ich gedacht, jetzt kannst du dich nicht mehr verstecken, nimm diese Gelegenheit wahr und fang einfach an. Dann bin ich erst einmal ins Heimatdorf meiner Mutter gefahren, habe mich mit vielen älteren Menschen zusammengesetzt, mit lokalen Historikern gesprochen und bin auf so einigen Dachböden herumgekrochen …

nussbaum.de: Warum das „zunächst nicht trauen“?

Beckmann: Weil mir der Aufwand bewusst war. Wer so ein Buch schreibt, kann nicht noch andere Dinge parallel tun. Das geht nur mit völliger Hingabe. Und Bücher schreiben ist eine einsame Sportart.

nussbaum.de: Als Journalist und langjähriger Reporter ist Ihnen das Recherche-Handwerk nicht fremd. Was unterscheidet denn die Buchrecherche vom journalistischen Alltag?

Beckmann: Nun, erst einmal, dass es 350 Seiten sind. Ich habe früher auch schon Bücher verfasst, aber das waren Gesprächsbücher und viel näher am Journalismus. Jetzt ging es um meine Familiengeschichte und sehr komplexe Zusammenhänge. Ich bin auf Dinge gestoßen, die in unserer Familie so gar nicht erzählt wurden, die mich überrascht und auch emotional mitgenommen haben. Und es hatte auch eine fast detektivische Seite, zum Beispiel wenn man neben den Feldpostbriefen auch in den Feldberichten liest, durch die ich einordnen konnte, wo meine Onkel wann waren. Sie selbst durften ja in den Briefen keine Ortsangaben machen.

Reinhold Beckmann: Aenne und ihre Brüder
Reinhold Beckmann: Aenne und ihre Brüder.Foto: Propyläen

nussbaum.de: Wie geht man denn mit solchen Erkenntnissen, neuen Aspekten der Familiengeschichte aus der Distanz um?

Beckmann: Es kam noch eine weitere Komponente hinzu. Ich hatte mir für den 21. Februar 2022 so eine Art Deadline gesetzt, jetzt beginne ich mit dem Schreiben. Der Schreibtisch war voll mit Recherchematerial. Drei Tage später saß ich fassungslos vor dem Fernseher, und es war Krieg in der Ukraine. Die Orte, von denen da berichtet wurde, Mariupol, das Asowsche Meer, kannte ich alle aus den Feldberichten und Briefen meines Onkels Alfons.

Da dachte ich, das gibt es doch nicht, dass sich so etwas wiederholt. Ich kann mich erinnern, dass ich irgendwann so erschöpft war, aber gleichermaßen auch besessen vom Schreiben, dass ich gar nicht mehr in den Schlaf gefunden habe. Ich war in einer Art Schreibrausch, und irgendwann habe ich gemerkt, wie körperlich und seelisch K.O. ich war.

nussbaum.de: Sie sind ja durch die Arbeit wirklich tief in die Familiengeschichte eingestiegen. Man lernt da ja seine Familie auch noch mal anders kennen. Wie war das für Sie auch ganz persönlich?

Beckmann: Dieses absurde Leid meiner vier Onkel, all das ungelebte Leben, das macht schon etwas mit einem. Ich wusste zwar manches durch die Erzählungen meiner Mutter. In vielen Familien wurde ja geschwiegen, meine Mutter hat gesprochen. Auch ihr Schicksal habe ich nun nochmal anders erfahren. Beide Eltern früh gestorben, und die vier Brüder, die alle nicht nach Hause gekommen sind - wie sie den Mut fassen konnte, nach dem Krieg ihr Heimatdorf zu verlassen und ihr Glück in der Fremde zu suchen, das hat meinen Respekt für meine Mutter noch erhöht.

nussbaum.de: Welche Gefühle haben Sie empfunden, als Sie die transkribierten Feldpostbriefe Ihrer Onkel zum ersten Mal gelesen haben?

Beckmann: Ich habe zum Beispiel meinen Lieblingsonkel entdeckt. Franz, den Ältesten, der hinreißende Briefe schreibt. Selbst in Situationen, wo der Verlust am größten war, unmittelbar nachdem Hans, sein nächster Bruder, gefallen war, kümmerte und sorgte er sich um die ganze Familie. Und das ist ja keine Familie von Intellektuellen, sondern eine ganz einfache, katholische Schusterfamilie aus einem kleinen, sehr gottesfürchtigen Dorf am Rande des Teutoburger Waldes. Franz hatte die Fähigkeit, seine Trauer zu formulieren und dagegen anzuschreiben. Er war überhaupt kein Freund des Krieges und hat sich auch getraut, kritische Dinge zu Papier zu bringen. Was auch nicht ungefährlich war. Mein Onkel Franz hat von Beginn an immer geschrieben, wann hört dieser ganze Schwindel eigentlich auf?

nussbaum.de: Aus Ihrem Buch spricht zum einen dieses „Nie wieder“ aber wie Sie das schon selbst skizziert haben, ist es leider nicht so, dass wir jetzt nach über 70 Jahren in einer Welt leben, in der Krieg keine Rolle mehr spielt. Wollten Sie mit dem Buch auch ein Zeichen setzen?

Beckmann: Ich komme aus einer Generation, die sich sehr mit Krieg und Frieden auseinandergesetzt hat. Ich habe als Jugendlicher gegen den Vietnamkrieg protestiert, habe den Kriegsdienst verweigert, was ich damals noch vor Gericht klären musste. Meine Mutter hat von ihren vier Brüdern, die nicht nach Hause kamen, immer zu Hause erzählt, und das hatte ich auch in meiner Begründung der Kriegsdienstverweigerung angegeben. Das sind Dinge, die mich schon immer geprägt haben.

Jetzt ist mir klar geworden, welche Spuren Krieg hinterlässt. Das merke ich auch an den Reaktionen auf das Buch, in den Briefen, die Menschen mir schreiben, oder bei den Lesungen. Man spürt, wie das noch so viele Jahre später bei uns allen unter der Haut steckt. Und ich frage mich, wie viele Generationen wird es dauern, bis die ukrainische und die russische Bevölkerung wieder Frieden miteinander finden?

nussbaum.de: Das klingt sehr pessimistisch …

Beckmann: Ich nenne mal ein positives Gegenbeispiel: Die deutsch-französische Freundschaft. Es ist ein großer politischer Erfolg, dass zwei Länder, die durch die Weltkriege und umso mehr durch die Besetzung Frankreichs so verfeindet waren, heute tatsächlich ein Freundschaftsmodell leben, das gut funktioniert. Der kulturelle Austausch, die Familienbesuche, die Städtefreundschaften - dass man all das nach dem Zweiten Weltkrieg so hinbekommen hat, das macht Mut.

nussbaum.de: Ist das Buch auch eine Aufforderung, andere Menschen zu ermutigen, auf Spurensuche zu gehen?

Beckmann: Wenn das Buch so etwas bewirkt hat, finde ich das toll. Oft stehen bei den Lesungen auch 18-, 19-, 20-Jährige da, die haben Oma und Opa oder ihre Eltern mitgebracht. Da kommt also die Initiative von den jungen Leuten, in die Lesung zu gehen. Das ist etwas, was mich in den letzten Monaten immer wieder gefreut, ja gerührt hat.

nussbaum.de: Planen Sie jetzt weitere Bücher oder Projekte? Nach so einem Erfolg kann ich mir vorstellen, dass die Verlage da gerne nachhaken …

Beckmann: Mein Verleger rief an und sagte, Reinhold, Du weißt ja, nach dem Buch ist vor dem Buch … (lacht). Aber nein, das muss man sehen. Ich bin gerade mit dem nächsten Musikprojekt beschäftigt, möchte erst mal wieder eine neue Platte machen. Ich habe auch zwei, drei Ideen für ein neues Buch, aber ich möchte das langsam angehen. Oder wie ein älterer Kollege früher sagte: „Da sei Recherche vor!“ Also erst mal wissen, worüber man schreibt … (lacht).

Reinhold Beckmann über "Aenne und ihre Brüder"

Live-Termine

Reinhold Beckmann liest aus "Aenne und ihre Brüder"

08.10., 19.30 Uhr – Karlsruhe, Sandkorn Theater
09.10., 20.30 Uhr – Baden-Baden, Rantastic
10.10., 20 Uhr – Offenburg, Reithalle
11.10., 20 Uhr – Mannheim, Franziskussaal

Erscheinung
exklusiv online
Über die aufgeführten Verlinkungen zu Drittseiten können Sie die aufgeführten Waren oder Dienstleistungen erwerben. Diese Verlinkungen sind jeweils mit einem Einkaufswagen-Symbol oder dem kaufinBW-Logo versehen. Klicken Sie auf eine solche Verlinkung und kommt es im Anschluss daran zu einem Vertragsschluss zwischen Ihnen und dem Anbieter des jeweiligen Produkts auf dessen Website, erhalten wir von dem Anbieter eine Provision.

Orte

St. Leon-Rot

Kategorien

Kultur
Literatur
von jr
23.09.2024
Meine Heimat
Entdecken
Themen
Kiosk
Mein Konto