
Kleine Buben mit Röckchen? – Heute kaum noch vorstellbar, aber bis in die 1920er Jahre für Knaben bis zum dritten oder vierten Lebensjahr völlig normal. Es gibt dafür viele Erklärungen bis hin zu der vom Volksaberglauben beeinflussten Ansicht, Hexen, Dämonen, Neider und andere böse Mächte über das Geschlecht des Kindes im Unklaren zu lassen bzw. ihnen vorzugaukeln, dass es sich bei dem Kind um ein Mädchen handle. Mädchen waren schließlich nicht so wertgeschätzt wie ein Stammhalter und ein Verlust scheinbar eher zu verschmerzen. Viel wahrscheinlicher ist eine Erklärung rein praktischer Natur, denn jede Mutter war froh, ihre Kleinkinder möglichst bald ohne Windeln zum Spielen auf den Hof schicken zu können.
Ludwig Jungmann aus Eggenstein, geboren 1879, schreibt in seinen Lebenserinnerungen dazu: Unter der Obhut von Vater und Mutter wuchs ich heran und trug bis zu drei oder vier Jahren wie die anderen Buben einen Rock aus buntkariertem Stoff, dann kamen die ersten Hosen und damit auch das Gefühl der Männlichkeit des Erwachsenseins. Und er schreibt weiter – leicht verklärt: Es sei üblich gewesen, dass sich die kleinen Kinder für ihr „Bäbä“ oder „A-A“ einfach auf den gemauerten oder betonierten Rand des Misthaufens oder das „Kack-Stühlchen“ neben dem Abort hockten, um dort ihr Geschäft zu verrichten. Das Ersparte der Mutter, das Wickeln. Und wenn man bedenkt, dass es damals noch keine Pampers, also Einmalwindeln gab, und die Hausfrau alle verschmutzten Windeln ohne Waschmaschine mühsam von Hand waschen musste, dann kann man sich die dadurch erzielte Arbeitserleichterung vorstellen. Anstatt des Röckchens endlich Hosen tragen zu dürfen, war für die kleinen „Hemdschisser“ natürlich ein Ereignis. Wie heiß ersehnt die Hosen waren, mit denen sich die Buben dann erstmals als Große fühlen durften, zeigt eine kleine Bronzefigur mit dem Titel Le premier Culotte (Die ersten Hosen), die um 1890 in Frankreich entstand.
Auf Fotos von Kleinkindern aus der Zeit um 1880/90 wäre es oft sehr schwierig, das Geschlecht des Kindes anhand seiner Kleidung auf den ersten Blick zu bestimmen, wenn nicht der Fotograf oder die Eltern den kleinen Buben mit eindeutig männlichen Attributen, wie z.B. einer Trompete, einer Trommel oder einem Schaukelpferd ausgestattet hätten. Auf mehreren solchen Fotos in den Sammlungen des Heimatmuseums sind sowohl die Kleidung der Kinder wie auch ihre Attribute zu sehen. Das älteste wohl um 1887/88 entstandene Foto zeigt den am 09.10.1885 geborenen Max Karl Bayer, Sohn des Karlsruher Gastwirts und Ziegeleibesitzers Eduard Bayer. Auf dem von dem Karlsruher Fotografen Friedrich Bengler in der Zähringer-Straße 41 aufgenommenen Porträt schaut der Knabe leicht skeptisch in die Kamera. Noch eindeutiger präsentiert sich der kleine Max Karl im Alter von etwa vier Jahren mit Röckchen und Matrosenkragen auf dem Foto des Karlsruher Hoffotografen Carl Ruf.
Wolfgang Knobloch
