Ein weiterer Nachfahre von ehemaligen jüdischen Mitbürgern besucht Malsch
Am Sonntag, dem 12. Mai 2024, nach mehrmonatigem Schriftwechsel und viel Planung, war ein weiterer Nachfahre aus der ehemaligen jüdischen Gemeinde zu Besuch in Malsch. Leigh Firn, ein pensionierter Arzt, reiste aus Boston, Massachusetts/USA an, um die Heimat seiner Vorfahren kennenzulernen.
Leighs Ururgroßvater mütterlicherseits war Samuel I Hess (1809-1864), der im Haus Brunnengasse 1 wohnte, wo sich später die Besenwirtschaft ‚Zum Bärtigen Winzer‘ befand. Samuel I Hess war zweimal verheiratet und Leighs Vorfahren stammten aus der zweiten Ehe, mit Eva Kander. (Sie erinnern sich vielleicht noch an den Besuch im Februar von Steven Hess mit Familie, dessen Vorfahren aus Samuels ersten Ehe mit Evas Schwester, Babette Kander, stammten)
Leigh Firn und Mitglieder des Arbeitskreises „Jüdisches Leben in Malsch“ wurden vom Bürgermeister Tobias Greulich herzlich im Rathaus empfangen. Leigh zeigte Interesse an dem im Rathaus stehenden Denkmal für die letzten 15 jüdischen Mitbürger, die im Oktober 1940 aus Malsch nach Gurs deportiert wurden. Diese Stele wurde 2013-15 von Malscher Konfirmanden für das ökumenische Jugendprojekt Mahnmal Neckarzimmern gestaltet. Eine zweite baugleiche Stele befindet sich in Neckarzimmern.
Im Anschluss fing die Gruppe einen gemeinsamen Rundgang an, um Leigh Firn die Spuren der ehemaligen jüdischen Gemeinde zu zeigen. Erster Halt war beim Kriegerdenkmal am Eingang zum Friedhof. Darauf zu finden sind die Namen von mehreren gefallenen jüdischen Soldaten. Weiter ging es dann zum unteren Dorfplatz, um das Haus in der Brunnengasse, den Synagogen-Gedenkstein, die Infotafel und die im Pflaster markierten Grundrisse der Synagoge und Mikwe zu sehen. Leigh Firn interessierte sich auch für die Stolpersteine, die 2018 für die Familien Hess und Hilb / Hamburger verlegt wurden. Er sah auch die ehemaligen Standorte der jüdischen Schule und längst abgerissenen Häusern, die einst von jüdischen Familien bewohnt waren. Um die Ecke, vor dem Haus Hauptstraße 86, inspizierte Leigh Firn auch die 6 Stolpersteine, die 2023 für Wilhelm, Betty, Simon Eugen, Käthe, Helmut and Hilda Hess verlegt wurden. (Damals kam der Sohn von Hilda Hess, Peter Katz, aus England mit seiner Frau Sherry, um an der Zeremonie teilzunehmen). Etwas weiter die Hauptstraße entlang sah Leigh das Haus, wo einst sein Malscher Urgroßvater, Heinrich Hess, Teilinhaber eines Tabakgroßhandels war. Anschließend fuhr die Gruppe nach Östringen, um die informellen Gespräche beim Mittagessen in einem italienischen Restaurant fortzusetzen.
Ein wichtiger Grund für Leigh Firns Besuch in unserer Gegend war, die Gustav-Wolf-Kunstgalerie in Östringen zu besichtigen. Gustav Wolf, der 1887 in Östringen geborene renommierte Maler, Graphiker, Radierer und Lithograph, war Leighs Großonkel. Gustav emigrierte 1938 in die USA, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entkommen. Dort setzte er seine künstlerischen Aktivitäten fort. 1946 wurde ihm angeboten, zurück nach Deutschland zu kommen, um eine Professorenstelle an der Karlsruher Akademie anzutreten. Leider litt Gustav schwer an Diabetes und konnte das Angebot wegen seines schlechten Gesundheitszustands nicht annehmen. Er starb nur ein Jahr später.
Die Stadt Östringen war sehr stolz auf ihren bedeutenden Sohn, Gustav, und in den 1980er-Jahren gelang es dem damaligen Bürgermeister, Erich Bamberger, Kontakt mit Gustavs Witwe, Lola, aufzunehmen. Sein Wunsch war, die noch erhaltenen Werke Gustavs an seinen ehemaligen Heimatort Östringen zurückzubringen. Dank finanzieller und logistischer Unterstützung von dem damals ortsansässigen britischen Chemiegiganten ICI, und insbesondere von dem ICI Prokuristen Herrn Walter Rothermel, wurden die Werke erworben und nach Östringen transportiert. Sie sind jetzt dauerhaft in der Gustav-Wolf-Kunstgalerie ausgestellt, einem sorgfältig und geschmackvoll restaurierten Fachwerkgebäude aus dem frühen 16. Jahrhundert, zusammen mit einem modernen, eigens dafür errichteten Nebengebäude, das 1994 eröffnet wurde.
Vor Betreten der Galerie sah Leigh das nur wenige Schritte entfernte Mahnmal zur Deportation der Juden aus Östringen, das ebenso seinen Zwilling in Neckarzimmern hat. Im Hof vor dem Eingang zur Galerie steht auch eine Büste von Leighs Großonkel Gustav Wolf.
Wolfgang Braunecker, Hauptamtsleiter im Östringer Rathaus und Kurator der Galerie, begrüßte Leigh und nahm uns mit auf einen Rundgang durch die verschiedenen Ausstellungsräume. Er gewährte uns faszinierende Einblicke in die Geschichte der Galerie und der darin ausgestellten Kunstwerke. Leigh war beeindruckt von den Galerieräumen und den hunderten von Exponaten, die in der Reihenfolge präsentiert werden, in der Gustav sie geschaffen hat. Leigh war ziemlich sicher, dass sich mindestens eines der als „verschollen“ geltenden Kunstwerke tatsächlich in seinem Besitz befand, da er es aus der Sammlung seiner Mutter geerbt hatte.
Nachdem er über eine Stunde in der Galerie verbracht hatte, trug sich Leigh in das Gästebuch ein und schrieb:„Ich war sehr erfreut zu sehen, dass die Kunstwerke von Gustav Wolf endlich ein Zuhause gefunden haben, in der Stadt seiner Geburt! Vielen Dank, dass Sie mir den Besuch ermöglicht haben. Ich wollte diese Galerie schon seit vielen Jahren besichtigen.“
Bevor es weiter zum jüdischen Friedhof in Mingolsheim ging, besuchten wir noch den ehemaligen Standort der Östringer Synagoge und genossen ein willkommenes und erfrischendes Eis in einer nahegelegenen Eisdiele.
Als wir auf dem Mingolsheimer Friedhof ankamen, waren wir angenehm überrascht, den bereits erwähnten Walter Rothermel zu treffen. Er erklärte, dass er nicht nur dazu beigetragen habe, Gustavs Kunstwerke nach Östringen zu bringen, sondern dass er und sein Bruder Winfried früher Eigentümer des obersten Stockwerks des Hauses waren, das später von der Stadt Östringen gekauft und zur Galerie umgebaut wurde. Er konnte viele Geschichten über das Haus und seine Beteiligung an den Verhandlungen mit Lola, Gustavs Witwe, erzählen.
Hans-Georg Schmitz, Mitglied unserer Forschungsgruppe, ist die führende Autorität auf dem Gebiet der Geschichte der ehemaligen jüdischen Bevölkerung in der Gegend. Er erzählte einiges über die Geschichte des Friedhofs und führte Leigh zum Grab seiner Urgroßeltern, Sigmund und Jette Wolf.
Der Tag klang aus mit lebhaften Diskussionen bei kühlen Getränken in der Nähe des nahe gelegenen Thermariums, wo Kontaktdaten ausgetauscht wurden. Auch überreichte Walter Rothermel Leigh Firn freundlicherweise eine Sammlung von Filmen über die Geschichte der Gustav-Wolf-Galerie, die er zusammengestellt hatte.
Dann war es für Leigh an der Zeit, in seinem Hotel einzuchecken, um sich etwas auszuruhen, damit er in den kommenden Tagen seine Europareise fortsetzen konnte.
Es ist immer eine bereichernde Erfahrung, Nachkommen zu treffen und neue und dauerhafte Freundschaften zu schließen, und wir hoffen, dass sich noch mehr solcher Gelegenheiten ergeben werden.
Text & Fotos: Peter Silver
Für den Arbeitskreis „Jüdisches Leben in Malsch“
(Die Gustav-Wolf-Kunstgalerie befindet sich am Leiberg III, 2 in Östringen und ist in der Regel sonntags von 15:00 bis 18:00 Uhr für die Öffentlichkeit zugänglich. Der Eintritt ist frei. Gustav-Wolf-Kunstgalerie: Östringen (oestringen.de))