„Rathauskarle“ Karl Binder – eine Institution in der Gemeinde Rutesheim
Anlässlich des 5. Todesjahres erinnern wir an Karl Binder, den Rutesheimern auch bekannt als „Rathauskarle“.
Karl Binder wurde am 1. August 1925 in der „Holdergass“ geboren. Dort verbrachte er auch die ersten neun Jahre seines Lebens, bis er mit seinen Eltern und Geschwistern in den Neubau in der Flachter Straße umzog. Er besuchte von 1932 bis zur Konfirmation 1939 die Volksschule in Rutesheim. Damals war die reguläre Schulzeit nur auf sieben Jahre angelegt. Der Wechsel in eine höhere Schule blieb ihm versagt. Die Eltern hatten nach dem Hausbau keine freien Mittel für das Schulgeld für alle ihre Kinder, so durfte auch Karl nicht in die „Oberschule“, denn die Eltern wollten keines ihrer Kinder bevorzugen oder benachteiligen.
Nach der Schulentlassung als Jahrgangsbester konnte er am 1. April 1940 eine Lehre als Angestelltenlehrlingim mittleren Dienst bei der Gemeindeverwaltung Rutesheim beginnen. Das Arbeitsamt Leonberg, der Deutsche Gemeindetag und die Landesdienststelle Stuttgart stimmten der Anstellung zu. Es fehlte nur noch ein schriftlicher Lehrvertrag. Dieser wurde dann am 27. Dezember 1940 zwischen Bürgermeister Raisch und Karl Binder sowie dessen gesetzlichem Vertreter geschlossen. Darin wurde aufgenommen, dass er „in die verschiedenen Tätigkeitsgebiete des Bürgermeisters und der Gemeindepflege, insbesondere in die Kassen-, Rechnungs- und Steuergeschäfte einzuführen und auszubilden sei“. Ebenso waren alle wichtigen Einzelheiten wie Unterhaltspflicht des gesetzlichen Vertreters, Krankheitsfürsorge, Erziehungsbeihilfe (Lehrlingsgehalt) u. a. beinhaltet.
Mit großem Fleiß, Disziplin, Loyalität, gewissenhafter Arbeitsleistung erarbeitete er sich einen sehr guten Lehrabschluss. Die Lehrzeit endete am 31.03.1943.
Gleich nach der Lehrzeit musste Karl in den seinerzeit üblichen Arbeitsdienst eintreten. Diesen absolvierte er in Renchen/Ortenaukreis. Von dort aus wurde er zum Militär eingezogen. Er kam zum Panzerbataillon nach Böblingen. Mit noch jungen Jahren, Karl war erst 18 Jahre alt, musste er Kriegsdienst leisten. Es ging von Kornwestheim aus zunächst nach Nordfrankreich, dann an die Ostfront. Er war u. a. auf der Halbinsel Krim stationiert. Im Laufe des Kriegsdienstes wurde sein Bataillon nach Rumänien verlegt, wo er in russische Gefangenschaft geriet. Das war eine herbe Zeit für den jungen Mann. Es gab tagelang nur Wassersuppe trotz harter Arbeit im Lager. Karl machte das Beste daraus und meinte Jahre später, ab und zu hätte er auch ein wenig Fleisch erhalten, wenn sich zufällig eine Fliege in die Suppe verirrt habe. Sein Kamerad und Freund konnte sich nicht zum Essen überwinden, verhungerte und verstarb. Nach Kriegsende konnte sich Karl Binder befreien und von Pogoanele (Rumänien) über Buzau, durch Wälder und auf Bahngleisen oder auf Zugdächern fahrend, unter Lebensgefahr schließlich im Oktober 1945 wieder in Rutesheim ankommen. Lange Zeit wusste man zu Hause nichts über Karls Verbleib und befürchtete schon das Schlimmste. So war die Wiedersehensfreude entsprechend groß. Seinen Heimweg verfolgte er in späteren Jahren anhand von Google Earth. Jede Einzelheit des 5-monatigen Rückwegs war ihm im Gedächtnis geblieben.
Im März 1946 konnte er seine Tätigkeit im Rathaus wieder aufnehmen. Seine Haupttätigkeit war in der Gemeindepflege, ihm oblag als Kämmerer die Hauptkasse, die Erstellung der jährlichen Haushaltspläne, das gesamte Rechnungswesen der Gemeinde. Karl Binder war 1946 und später in der Wohnungskommission und somit zuständig für die Wohnungszuteilung der Neubürger (Vertriebene, Flüchtlinge) in freie oder beschlagnahmte Räume in Rutesheim und auch Ansprechpartner für deren andere Belange, wie Brennholzzuteilung oder Beschaffung von Geräten bis hin zu Malerpinseln und für Vermittlung von Grundstücken, damit die Zugezogenen ihr eigenes Gemüse anbauen und sich somit ggf. selbst versorgen konnten. Zu seinen weiteren Aufgaben gehörten als Hauptkassier die Teilnahme am jährliche Holz- und Christbaumverkauf aus dem Gemeindewald. Er unterstützte den Bezirksnotar, bei dessen zeitweiser Abwesenheit aus Rutesheim verhandelte und bereitete er für die Gemeinde Grundstückskaufverträge vor.
1950 absolvierte Karl Binder seine Prüfung für den mittleren und 1954 für den gehobenen Verwaltungsdienst nach entsprechenden Lehrgängen in Stuttgart.
Mit seinem zweiten Chef, Kurt Schaible, zusammen gelang 1952 die Ansiedlung der Metzler oHG (spätere Firma Drescher, Drescher-Paragon usw.) und Firma Bosch in Rutesheim. So wurden viele neue Arbeitsplätze im Ort geschaffen und die Gemeindeeinnahmen vermehrt.
Mit Bürgermeister Schaible sowie dem später jeweils zuständigen Halter besuchte Karl Versteigerungen von Bullen (Farren) und Ebern in Herrenberg bzw. in Franken für den gemeindlichen Bestand. Das Verhältnis von Bürgermeister Schaible und Karl Binder wird als respekt- und vertrauensvoll beschrieben. Karl Binder fungierte auch als Ausbilder der Verwaltungsleute in seinem Metier, selbst seinen späteren Chef Wilfried Reichert bildete er mit aus. Dies war für beide nicht einfach, sie meisterten jedoch die Situation sehr gut und arbeiteten „getragen von gegenseitiger Achtung und Wertschätzung“ miteinander zum Wohle Rutesheims. Zeitlebens blieben sie in engem guten, persönlichen Kontakt. Karl Binder wirkte für die Gemeinde im Zweckverband Wasserversorgung Renningen-Rutesheim.
Nicht wenige Ehepaare wurden von ihm als Standesbeamten getraut. Hatten die Rutesheimer Probleme oder Anfragen, brachten sie diese meistens Herrn Binder vor. Er kümmerte sich, so gut er konnte, um die Anliegen seiner Rutesheimer oder vermittelte ihnen den richtigen Ansprechpartner. Einige Zeit arbeitete Karl Binder aushilfsweise in der Gemeinde Flacht. Dort wurde er gebeten, als Bürgermeister zu kandidieren. Karl lehnte jedoch ab und kehrte in seine Heimatgemeinde Rutesheim zurück, wo er bis zum Ende seines Berufslebens blieb.
Mit einer großen Feier und im Rahmen einer Sondersitzung des Gemeinderats wurde er am 31. August 1987 nach 47-jähriger Tätigkeit in den Ruhestand verabschiedet. Er hatte sich mit viel Fleiß, Loyalität, Integrität und Verschwiegenheit vom Volksschüler bis zum Gemeindeoberamtmann hochgearbeitet. Was ihm anvertraut wurde, blieb ganz bei ihm. Das schätzten „seine Rutesheimer“ sehr. In Würdigung und aus Dankbarkeit für seine herausragenden Leistungen und besonderen Verdienste für die Gemeinde und ihrer Einwohner wurde ihm die Verdienstmedaille der Gemeinde verliehen. Zweifellos habe Karl Binder ein Stück Rutesheimer Geschichte mitgeschrieben, so die Worte des Personalrats Paul Ziehmann bei seiner Verabschiedung in den Ruhestand.
Auch nach seinem Abschied aus dem Berufsleben verfolgte er die Geschehnisse im Rathaus sehr genau. Er sammelte alle Jahresrückblicke der Gemeinde und sonstige Veröffentlichungen was Rutesheim betraf. Seine Sorge war stets, ob es seinen „Nachfolgern“ im Rathaus gelingen würde, die Finanzen gesund zu erhalten, genügend Einnahmen aus Forst- und Grundstücksbewirtschaftung zu generieren. Neben seinen Aufgaben „im Rathaus“ wirkte er als Vorstandsmitglied in der Rutesheimer Spar- und Darlehenskasse, der späteren Rutesheimer Bank bzw. VR-Bank und nahm auch dort an zahlreichen Sitzungen teil und verantwortete viele Entscheidungen der Bank mit, so auch verschiedene Fusionen. In seinem Ruhestand war es keinesfalls so ruhig. So war er weiterhin als Ratgeber für viele tätig, ob dies bei Finanzfragen oder Grundstücksangelegenheiten war. Von Rutesheimern ohne direkte Nachkommen wurde er z. B. auch als Nachlassverwalter eingesetzt. So hatte er auch nach dem aktiven Arbeitsleben genug zu tun.
Bereits am 1. Januar 1946 trat er in die SKV ein und war über 70 Jahre aktiver Sänger im 2. Bass der Sängerabteilung. Dort war er 25 Jahre lang Schriftführer. Zeitweise war er auch Schriftführer und viele Jahre Kassenrevisor im Gesamtverein. Bei Konzerten, Auftritten bei den Totengedenkfeiern oder der jährlichen Altjahresabendfeier vor dem Alten Rathaus sang er mit viel Freude. Die erste Chronik der SKV zum 50-jährigen Jubiläum 1951 verfasste er teilweise mit.
Die Arbeit im Haus und Garten gefiel ihm. Auch Reisen (u. a. auf die Krim, wo er als Soldat war) und Ausflüge machte er gerne. Fotografieren gehörte ebenfalls zu seinen Hobbys. Er bestückte zig Alben mit seinen Erinnerungsbildern, akribisch beschriftet mit seiner gestochen schönen Handschrift. Die Ausflüge wurden anhand von Straßen- und Landkarten geplant und in Gedanken abgefahren. Später, als es digitale Möglichkeiten gab, nutzte er diese.
Karl Binder war vielseitig interessiert und so verwundert es nicht, dass er noch in seinen Siebzigern (2000) zusammen mit seinem etwas jüngeren Bruder einen Volkshochschulkurs besuchte, der ihn in die Arbeit am PC einführte. Danach schrieb er Briefe nicht mehr von Hand, sondern über die Tastatur am PC.
Was er beim Kreuzworträtsel nicht wusste, wurde fortan gegoogelt. Er war allem Neuen aufgeschlossen. Auch widmete er sich der Erlernung der spanischen Sprache. In seinen letzten Jahren kümmerte er sich um seine erkrankte Frau, um die Einkäufe und den Garten, bis er selbst krank wurde. Er verstarb am 25. Februar 2019 im Alter von knapp 94 Jahren nach einem erfüllten Leben.
Waltraud Wechsler