Erinnerung an Flucht und Vertreibung
Für ihren Beitrag zu einem landesweiten Geschichtswettbewerb erhält eine Königsbacher Gymnasiastin einen Preis von der Bildungsministerin. Außer ihr gelang das unter 3.000 Teilnehmern nur rund 40 weiteren Schülern.
Eigentlich ist eine Puppe ein lebloser, toter Gegenstand ohne Gefühle, Empfindungen und Erinnerungen. Doch in der Geschichte von Elisa Jeske bekommt sie menschliche Züge, emotionale Kompetenzen und eine eigene Vergangenheit. Aus der Perspektive einer Puppe erzählt die Oberstufenschülerin des Königsbacher Lise-Meitner-Gymnasiums von Flucht und Vertreibung, von Entbehrungen und traumatischen Erlebnissen. Vor kurzem hat Elisa für ihren Text bei einem landesweit ausgetragenen Wettbewerb einen Preis erhalten, überreicht von keiner Geringeren als von Bildungsministerin Theresa Schopper. Damit gehört die Schülerin unter den mehr als 3.000 Einsendern zu den 42 Ausgezeichneten. Elisa erinnert sich noch genau an den Empfang im Haus der Heimat in der Landeshauptstadt Stuttgart, an den festlichen Rahmen und an die lobenden Worte der Redner. Dass sie dorthin eingeladen würde, hätte die Oberstufenschülerin nicht für möglich gehalten, als sie sich im Dezember des vorigen Jahres dazu entschied, an einem Wettbewerb teilzunehmen, den das Kultus- und das Innenministerium bereits seit den 1970er-Jahren gemeinsam ausrichten. Unter dem Titel „Die Deutschen und ihre Nachbarn im Osten“ drehte sich dieses Mal alles um Flucht und Vertreibung, genauer gesagt um die Ereignisse am Ende des Zweiten Weltkriegs, als viele Menschen in Osteuropa ihre Heimat verlassen mussten.
Theoretisch hätte Elisa in ihrer Altersklasse zu dem Thema auch ein Gemälde einreichen können, doch die 18-Jährige entschied sich für einen Text. Fiktional musste er sein, geschrieben aus der Sicht einer Puppe, die heute auf das zurückblickt, was sie 1945 an der Seite eines damals fünfjährigen Mädchens erlebt hat. Das waren die Vorgaben, die Elisa sofort spannend fand. Intensiv recherchierte sie über den Brünner Todesmarsch, bei dem vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen von Tschechien nach Österreich vertrieben wurden: 55 Kilometer zu Fuß, bei drückender Hitze, schlechter Versorgung und zahlreichen Misshandlungen. Aus Büchern, Filmen und Zeitzeugenberichten besorgte sich Elisa die Informationen für ihren Text, der nach und nach entstand. Sie versuchte, über die Puppe die Perspektive eines fünfjährigen Mädchens einzunehmen, das nicht versteht, was um es herum passiert. Bei ihren Recherchen hatte Elisa den Eindruck, dass man sich damals nicht wirklich um die Kinder gekümmert hat, dass viele von ihnen ein Trauma mitgenommen haben, das sie anschließend nie verarbeiten konnten. Im Text wendet sich die Puppe an ihre Besitzerin, die inzwischen kein fünfjähriges Mädchen mehr ist, sondern eine Frau über 80.
Ihr erzählt sie von den Ereignissen im Sommer 1945, von den Strapazen und von dem, was Kinder zwar ahnen, aber noch nicht verstehen können, wenn sie am Straßenrand Menschen regungslos auf dem Boden liegen sehen. Dennoch spricht die Puppe respektvoll und sensibel mit ihren ehemaligen Besitzern, voller Stolz und Dankbarkeit, dass sie den Todesmarsch überlebt hat. Elisa hat ihren Text sehr dicht gehalten und emotional gestaltet, denn auch für sie war die Arbeit an dem Thema sehr emotional, aufwühlend und tiefgehend. Die Schülerin gibt offen zu, dass es ihr an einigen Punkten schwerfiel, weiterzumachen. Trotzdem hat es ihr Freude bereitet, Sachinformationen in einen kreativen Prozess umzusetzen und damit einen Text zu verfassen, der so wirkt, als ob er als Zeitzeugenbericht die Grundlage für historische Forschung gewesen sein könnte. Immer wieder hat sie einzelne Stellen geändert, Wortwahl und Ausdrucksweisen überarbeitet. Anfang Februar schickte sie den fast fertigen Text ihrem Geschichtslehrer zu, der ihr noch ein paar Tipps für Formulierungen gab, aber inhaltlich nichts ändern wollte.
Ein paar Tage später hat sie ihren Beitrag für den Wettbewerb eingereicht – und anschließend nicht mehr daran gedacht, bis Ende April am Königsbacher Gymnasium eine Meldung einging: Elisa gehört unter mehr als 3.000 Teilnehmern zu den landesweit nur 42 Preisträgern. Als sie ihre Auszeichnung im Haus der Heimat von Ministerin Schopper entgegennahm, war die Schülerin „ganz schön aufgeregt“. Ihr hat die Veranstaltung gut gefallen, vor allem wegen der wertschätzenden Atmosphäre. „Das hat sich alles sehr festlich angefühlt.“ Dass sie zu den Preisträgern zählen würde, hätte Elisa beim Einreichen ihres Beitrags nicht für möglich gehalten. Eigentlich ist Geschichte nämlich nicht so ihr Ding, aber in diesem Format fand sie das Fach äußerst spannend. Sie glaubt, dass ihr die Erfahrungen noch lange in Erinnerung bleiben und viel für das spätere Leben bringen werden. Im neuen Schuljahr wird Elisa im Unterricht ein Referat, eine sogenannte gleichwertige Feststellung von Schülerleistungen (GFS), über das Thema halten. Dann allerdings nicht aus der Perspektive einer Puppe, sondern auf Basis der recherchierten Informationen. – Nico Roller