Zur Bundestagswahl am 23. Februar führt Nussbaum Medien Interviews mit einigen Direktkandidaten aus dem Wahlkreis 277 Rhein-Neckar; so auch mit Prof. Dr. Lars Castellucci von der SPD.
Nussbaum Medien (NM): Was sind Ihrer Meinung nach die größten Sorgen der Menschen hier im Wahlkreis?
Lars Castellucci: Es ist schwer, dies auf ein oder zwei Themen herunterzubrechen. Es herrscht eine allgemeine Verunsicherung aufgrund der vielfältigen Krisen und Probleme, die sowohl im Land als auch international bestehen. Das Resultat ist ein Mangel an Zuversicht für die Zukunft. Viele Menschen haben Schwierigkeiten, mit den steigenden Lebenshaltungskosten zurechtzukommen, während andere, die sich ihren Lebensstandard hart erarbeitet haben, befürchten, diesen nicht halten zu können.
NM: Was betrachten Sie als Ihren größten Erfolg der letzten vier Jahre? Und wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf?
Castellucci: Im Wahlkreis habe ich mich besonders dafür eingesetzt, dass Fördergelder ankommen. Es ging um Stadthallen, Hallenbäder und den Glasfaserausbau. Unser wirtschaftlich starker Wahlkreis bietet Perspektiven, aber wir müssen den Umbau unserer Wirtschaft zu einem klimaneutralen Modell noch intensiver verfolgen. Das Beschleunigen von Verfahren und die Entbürokratisierung sind ebenfalls zentrale Aufgaben.
NM: Die (Neu-)Verschuldung der Kommunen steigt rasant an. Gerade kleinere Kommunen haben es immer schwerer. Braucht es neue Finanzierungsmodelle für die Kommunen?
Castellucci: Die Finanzausstattung der Kommunen muss verbessert werden, damit sie handlungsfähig bleiben. In den letzten zehn Jahren haben Kommunen insgesamt Gewinne gemacht, während sich der Bund verschuldet hat. Manche Kommunen benötigen dringend Entlastung, besonders bei Kassenkrediten. Wir planen, gemeinsam mit den Ländern Altschulden zu übernehmen. Danach müssen die Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen neu verhandelt werden.
NM: Mieten, Lebensmittel, Energiekosten – die Preise in diesen Bereichen bleiben nach wie vor auf hohem Niveau. Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um die Preise wieder zu senken?
Castellucci: Die Programme der Parteien wurden vom Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung analysiert, und es zeigt sich, dass die SPD einen klaren Plan hat, um 95 Prozent der Menschen zu entlasten. Dazu gehört eine Senkung der Einkommenssteuer sowie der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel. Wir setzen uns für eine gerechtere Verteilung der Lasten ein, wobei breite Schultern mehr tragen sollten.
Im Bereich der Einkommenssteuer planen wir daher, den Tarif abzuflachen und den Spitzensteuersatz anzuheben, sodass er später einsetzt. Zudem wollen wir Entlastungen für Familien durch Kindergeld und Wohngeld fortsetzen. Die Umstellung auf klimaneutrale Energien wird in der nächsten Wahlperiode zentral sein, um langfristig Kosten zu senken. Der Umstieg auf erneuerbare Energien bedeutet zunächst Investitionen, die aber notwendig sind. Es geht darum, die Menschen mitzunehmen und zu entlasten.
NM: Was sind Ihre Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel, besonders in der Pflege/Hunderttausende Arbeitskräfte fehlen, ob in Pflege, Handwerksbetrieben oder an Schulen und Kitas – Tendenz steigend. Wie wollen Sie hier gegensteuern?
Castellucci: Bis 2060 fehlt ein Drittel der Beschäftigten. Wir müssen die vorhandenen Potenziale besser nutzen, wie Frauen und Menschen mit Behinderungen. Eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie der Rechtsanspruch auf Betreuung sind essenziell. Zudem brauchen wir Zuzug von Fachkräften. Diese Menschen müssen sich hier willkommen fühlen.
NM: Was der Wirtschaft zudem zu schaffen macht, ist die überbordende Bürokratie. Gleichzeitig haben viele Versuche, Bürokratie abzubauen, das Gegenteil bewirkt. Was schlagen Sie vor?
Castellucci: Diese Wahlperiode war diejenige, in der am stärksten entbürokratisiert wurde. Aber solche Maßnahmen benötigen Mehrheiten und Zeit, bis sie ihre Wirkung entfalten. Oft entstehen auch neue bürokratische Anforderungen, um Sicherheit und Gesundheit zu gewährleisten. Der Schlüssel liegt darin, das richtige Gleichgewicht zu finden.
Einige Maßnahmen sind bereits umgesetzt worden. Zum Beispiel müssen Gäste in Hotels keinen Meldeschein mehr ausfüllen, wenn sie online gebucht haben. Solche Schritte fallen auch im Zuge der Digitalisierung weg. Aber Deutschland hat hier viel Nachholbedarf. Es ist ein kontinuierlicher Prozess, alte Regelungen abzuschaffen, wenn neue geschaffen werden.
NM: Der Deutschen Rentenversicherung zufolge gibt es nach 2030 keine Untergrenze mehr für das Rentenniveau. Gleichzeitig werden junge Menschen historisch hohe Beiträge zahlen müssen. Wie kann die Politik dem begegnen?
Castellucci: Das Rentenniveau soll stabilisiert werden, damit auch die junge Generation eine sichere Rente hat. Dafür sind steigende Beiträge und zusätzliche Steuermittel notwendig. Langfristig wird sich das Rentensystem stabilisieren, wenn wir die hohe Beschäftigungsquote halten können.
Die Stabilisierung soll dabei ohne Rentenkürzungen oder ein höheres Renteneintrittsalter, das viele Menschen ohnehin nicht erreichen könnten, erzielt werden. Wir setzen auf eine starke gesetzliche Rente, Betriebsrenten und private Vorsorge. Ein höherer Mindestlohn wird dazu beitragen, dass auch Menschen mit niedrigen Einkommen eine Rente oberhalb des Sozialhilfesatzes erhalten.
NM: Deutschland hinkt vor allem im Verkehrssektor seinen Klimazielen hinterher. Welche Schritte sind Ihrer Meinung nach zielführend?
Castellucci: Die Energiewende gelingt nur, wenn klare Ausbauziele festgelegt werden. Alle Bereiche müssen betrachtet werden – Wärme, Mobilität, Wirtschaft. Das ist eine große Veränderung, aber notwendig. Die globale Erwärmung liegt bereits bei 1,6 Grad, wir dürfen also nicht nachlassen. Unternehmen brauchen Investitionssicherheit statt politischem Hin und Her, wie wir es etwa beim Atomausstieg gesehen haben. Im Bereich Mobilität setzen wir auf E-Autos. Doch nach dem Auslaufen der Förderprogramme stockt der Absatz. Ich verstehe die Frage, wer sich ein E-Auto leisten kann.
Deshalb müssen wir Anreize setzen, um den Markt zu stabilisieren und E-Autos erschwinglicher zu machen. Probleme wie Reichweite oder Ladeinfrastruktur werden sich mit der Zeit lösen. Aber das passiert nicht von selbst – wir müssen entschlossen handeln. E-Fuels sind für Schifffahrt und Luftverkehr sinnvoll, aber nicht für die breite Autoflotte.
Ihr Energieaufwand ist zu hoch. Stattdessen sollten wir den Ausbau erneuerbarer Energien weiter vereinfachen – etwa durch Photovoltaik auf Dächern oder Balkonen. Das spart Geld und macht nachhaltige Mobilität zugänglicher. Die Energiewende steht erst am Anfang, aber wir treiben sie mit voller Kraft voran – allerdings nicht mit Tesla (Anm. der. Red.: Tesla-Chef Elon Musk ist in den letzten Monaten mehrfach negativ aufgefallen. So zeigte er zur Amtseinführung von US-Präsident Donald Trump den „Hitlergruß“; auch zuvor fiel Musk immer wieder durch rassistische und verschwörungstheoretische Aussagen auf.)
NM: Extremistische Tendenzen und Gewalt gegen Politiker sind ein wachsendes Problem. Wie begegnen Sie dem?
Castellucci: Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein. Die Regeln des Alltags müssen auch online gelten und durchgesetzt werden. Die Verunsicherung der Menschen fördert populistische Tendenzen. Klare politische Orientierung und Nahbarkeit sind wichtig. Initiativen wie „Pizza und Politik“ sollen jungen Menschen den Zugang zu Politik erleichtern. Politik muss verständlich und zugänglich sein. Bildung und das Verständnis für individuelle Lebenssituationen sind wichtig. Direkte Maßnahmen wie Quartiermanagement können helfen, Menschen zusammenzubringen und Vorurteile abzubauen.
NM: Was hat aus Ihrer Sicht zum Scheitern der Ampelregierung geführt und was kann die SPD daraus lernen?
Castellucci: Die Parteien der Ampel sind sehr unterschiedlich. Nach der Wahl müssen sie Unterschiede beiseitelegen und gemeinsam handeln. Probleme müssen lösungsorientiert angegangen werden. Es bedarf klarer Regeln und Verabredungen für die Regierungsarbeit sowie Konsequenzen bei Nichteinhaltung.
Es muss klarere Verabredungen über die Art des Regierens geben. Spielregeln müssen festgelegt und eingehalten werden. Die Vielfalt im Land sollte als Stärke gesehen und in einer gemeinsamen Politik umgesetzt werden. Bei Unstimmigkeiten sind schnelle Konsequenzen notwendig, um ein effektives Regieren zu gewährleisten.
Prof. Dr. Lars Castellucci ist seit 2013 Mitglied des Bundestags. Geboren wurde er 1974 in Heidelberg. Er besuchte die Schule in Walldorf, leistete seinen Zivildienst am PZN in Wiesloch ab und studierte daraufhin Politikwissenschaft, Mittlere und Neuere Geschichte sowie Öffentliches Recht in Heidelberg. Es folgte eine Promotion in Darmstadt. Seit 1991 ist er Mitglied der SPD und war unter anderem Ortsvereinsvorsitzender in Wiesloch, Kreisvorsitzender SPD Rhein-Neckar, stellv. Landesvorsitzender der SPD in Baden-Württemberg, im Stadtrat in Wiesloch und im Kreisrat des Rhein-Neckar-Kreises. Zudem lehrt er an der Hochschule der Wirtschaft für Management in Mannheim. Er ist Mitbegründer der BIWU Beschäftigungsinitiative Wiesloch und Umgebung e. V. sowie von Pizza und Politik e. V. Außerdem ist er Mitglied bei der Bürgerstiftung Wiesloch, dem Deutschen Alpenverein, im Fortschrittsforum und vielen weiteren Vereinen.