Wer denkt, ein Stadtarchivar verbringe seine Tage ausschließlich zwischen verstaubten Akten, liegt nicht ganz falsch, aber eben auch nicht ganz richtig. Martin Sommer, Stadtarchivar von Wiesloch, gibt spannende Einblicke in ein Berufsfeld, das deutlich vielfältiger und lebendiger ist, als viele vermuten.
Seit den 1980er Jahren sind Städte in Deutschland gesetzlich verpflichtet, ein Archiv zu führen. Der Impuls für dieses Gesetz war die große Debatte rund um die Volkszählung und die damit verbundenen Fragen: Was passiert mit den erhobenen Daten? Wie werden sie geschützt? Seitdem ist klar geregelt: Stadtverwaltungen müssen archivieren. Denn Archivierung ist nicht nur Datenschutz, sondern auch Gedächtnisbewahrung.
„Unsere Aufgabe ist es, stadtgeschichtlich relevante Dokumente dauerhaft zu erfassen, zu verwahren, aufzubereiten und zu konservieren“, erklärt Sommer. Nach spätestens 30 Jahren in der Registratur einer Stadtverwaltung wandern ausgewählte Unterlagen ins Stadtarchiv. Was davon tatsächlich archivwürdig ist, entscheidet der Stadtarchivar. Dabei geht es nicht nur um Akten – auch Nachlässe, Fotos oder besondere Einzeldokumente sind von Interesse.
Martin Sommer ist studierter Historiker. Bevor er 2017 den Posten des Wieslocher Stadtarchivars übernahm, arbeitete er in einer sogenannten Geschichtsagentur. Diese Agenturen bereiten für Unternehmen deren Historie auf, zum Beispiel für Jubiläumsschriften oder Unternehmenschroniken. Ein leselastiger Job sei das Archivarwesen, meint Sommer schmunzelnd – „aber dafür wie gemacht für alle, die gerne graben und entdecken.“
Denn das Archivieren ist auch ein bisschen Detektivarbeit. „Wenn man nach vielen Stunden plötzlich ein besonderes Dokument findet, ist das ein echtes Erfolgserlebnis.“ Besonders spannend findet Sommer die Dokumente zum Bergbau in Wiesloch. Dass die Laurentiuskirche nach einem der Schutzheiligen der Bergleute benannt ist, zeigt, wie tief der Bergbau die Stadt einst prägte. Zwar endete der Bergbau in den 1950er Jahren, doch im Archiv lebt diese Zeit weiter.
Ein großes Thema im modernen Archivwesen ist die Digitalisierung. Zum einen als Schutzmaßnahme für besonders fragile Dokumente und zum anderen als Chance für private Einsichtsmöglichkeiten von zu Hause aus. Wer Unterlagen einsehen möchte, kann dies nach Anmeldung tun. „Bei personenbezogenen Daten ist das allerdings erst nach Überschreitung der Personenschutzfristen möglich“, erklärt Sommer. Gesetzlich geregelt ist: Auf Einzelpersonen bezogene Dokumente dürfen frühestens 10 Jahre nach dem Sterbedatum oder, falls dieses unbekannt ist, 90 Jahre nach der Geburt eingesehen werden.
Das Archiv erhält seinen Input vor allem aus der Registratur der Stadt und aus privaten Nachlässen. Deshalb bittet Sommer: „Wer denkt, alte Unterlagen oder Fotos könnten historisch interessant sein, sollte sich lieber vorher bei uns melden, bevor etwas im Müll landet.“ Nicht alles sei allerdings geeignet: „Einmal wurde mir ein altes Bügeleisen angeboten und jemand anderes brachte Büromaterial aus den 1960er Jahren, darunter ein Locher.“ Ob das als Spende an die Stadt gedacht war oder als Hinweis auf knappe Kassen, man weiß es nicht.
Tatsächlich archiviert werden vorwiegend papierbasierte Dokumente, aber vereinzelt auch Objekte wie z.B. Pokale, sofern sie einen erkennbaren Bezug zur Stadtgeschichte haben. Zu den bewegendsten Sammlungen zählen für Sommer die Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg, die er 2018 zum 100. Jahrestag des Kriegsendes zusammenstellte. „Da findet man Briefe von Eltern, die ihrem Sohn auf einen optimistischen Brief antworten und der ist dann mit dem Stempel ‚Gefallen im Feld der Ehre‘ versehen. Das geht unter die Haut.“
Neben der Archivarbeit bietet Sommer auch historische Stadtführungen an, für die Allgemeinheit, aber auch gezielt für Besuchergruppen wie kürzlich für Austauschschüler aus Wieslochs Partnerstadt Sturgis (USA). Er möchte Geschichte anschaulich und erfahrbar machen. „Früher war Geschichte oft eine trockene Abfolge von Zahlen und Herrschernamen. Heute wollen wir sie mit persönlichen Schicksalen und Objekten erzählen.“
Herausfordernd bleibt für Sommer die Entzifferung alter Handschriften. „Da braucht man Geduld, Übung und manchmal auch Fantasie.“ Er zeigt ein altes handschriftliches Buch, ein Zeitzeugnis, das viel über seinen Entstehungskontext verrät, aber erst einmal gelesen werden will.
Ein Großteil der Anfragen an das Archiv betrifft Personenstandsdaten, früher Aufgabe der Kirchenbücher, seit 1870 von den Städten übernommen. Nachlassgerichte, Familienforscher, Journalisten und Historiker gehören zu den häufigsten Anfragenden.
Wer selbst Stadtarchivar werden möchte, sollte idealerweise Geschichte studieren und sich anschließend im Archivwesen weiterbilden, so wie Martin Sommer. Alternativ kann man ein Studium mit Archivschwerpunkt absolvieren. Auch die Ausbildung zur oder zum Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste (FaMI) mit der Fachrichtung Archiv ist ein Weg in diesen spannenden Beruf. FaMIs unterstützen bei der Erschließung, Pflege und Nutzbarmachung des Archivguts.
Martin Sommer liebt seinen Beruf – besonders die Momente, in denen Geschichte lebendig wird. Denn: „Die Geschichtsschreibung dient dem enorm wichtigen gesamtgesellschaftlichen Zweck, die Vergangenheit in all ihren Facetten so lückenlos wie möglich zu erfassen, damit die richtigen Lehren für die Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft daraus gezogen werden können. Während Individuen an der Summe ihrer persönlichen Erfahrungen reifen, kann dies die Gesellschaft durch die Betrachtung und Analyse ihrer Geschichte tun. Archive liefern hierzu das unverfälschte ‚Rohmaterial‘.“ Damit auch kommende Generationen von diesen Schätzen profitieren können, ist er auf Mithilfe angewiesen.
Deshalb sein Appell an alle Wieslocherinnen und Wieslocher:
„Bevor Sie alte Fotos, Briefe oder Unterlagen entsorgen, fragen Sie doch bitte erst beim Stadtarchiv nach. Vielleicht steckt ein Stück Stadtgeschichte darin.“ (ch)