
Frei Otto suchte Leichtigkeit, Offenheit, Wandel – und scheute kein Risiko. Ganz in diesem Sinne stand das Symposium in der Rolf-Wagner-Halle am 18. Oktober, das den 100. Geburtstag des visionären Architekten beschloss. Internationale Architektinnen, Designer und Forscherinnen diskutierten, was heute aus Ottos radikalen Denken gelernt werden kann. Der Tenor: Architektur braucht wieder mehr Wagemut. Oder, wie Kurator Dr. Ulrich Wegenast es formuliert: „Wir brauchen wieder mehr Punk.“
Zwischen Vision und Verantwortung
Frei Otto habe mit seinen Ideen eine Verantwortung hinterlassen, betonte Florian Streib, Amtsleiter für Kultur und Sport, in seiner Begrüßung. Verantwortung, nicht nur für neue Formen des Bauens, sondern auch für das Klima, die Stadt und die Gesellschaft; dabei Disziplinen und Denkweisen zu verbinden. Genau daran knüpfen die Referentinnen und Referenten in ihren Arbeiten sowie in Warmbronn an – auf ihre ganz eigene Weise.
Stoff, Wurzeln, Maschinen
Die niederländische Designerin Petra Blaisse demaskiert den Vorhang als bloßes Dekorelement. In ihrem Buch „Art Applied“ beschreibt sie ihn als selbstbewusstes, weiches und zugleich machtvolles Objekt – eines, das Raum und Atmosphäre beeinflusst und mitgestaltet. Mit ihrem Studio Inside Outside arbeitete sie schon am Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart, gemeinsam mit Architekt Prof. Tobias Wallisser.
Prof. Tobias Wallisser, Mitbegründer des Büros LAVA – Laboratory for Visionary Architecture, führt Frei Ottos Prinzip des „Mehr mit weniger“ fort. Er konzipierte den Deutschen Pavillon der Expo 2025 in Osaka mit dem Fokus auf zirkuläres Bauen. Er ist als Teil der Natur konzipiert: Pflanzen spenden Schatten und Kühlung, Bauteile können demontiert und wiederverwendet werden. Architektur wird so zum Materialkreislauf – ein temporäres Experiment, das sich selbst wieder auflöst.
Prof. Dr. Ferdinand Ludwig, Professor für Green Technologies in Landscape Architecture, treibt diese Idee ins Lebendige. In seiner „Baubotanik“ fragt er: Können Bäume Häuser sein? Seine Forschung zeigt, dass das keine Utopie ist. Wie beim Volk der Khasi in Indien, die über Jahrzehnte lebende Brücken aus Wurzeln wachsen lassen, versteht Ludwig Gebäude als sich entwickelnde Organismen. Sein eigenes Experiment: ein Dach aus 1.800 Metern Baustahl, getragen von wachsenden Platanen. Die Struktur verändert sich mit den Jahren – Architektur als Prozess, nicht als Produkt.
Maria Yablonina, Dozentin an der University of Toronto, fügt eine technologische Dimension hinzu. Sie entwickelt kletternde Maschinen, die Bauwerke untersuchen und reparieren. Statt auf Effizienz und Präzision zu bestehen, spricht sie ihren Maschinen „Weichheit und Leichtigkeit“ zu – ein kybernetischer Zugang, der Kontrolle durch Kooperation ersetzt.
Auch Dr. Raquel Jaureguízar, Projektleiterin der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27), spannt den Bogen zu Frei Otto. Die Fragen der Weißenhofsiedlung von 1927 – Wie wollen wir in Zukunft leben und bauen? – werden neu gestellt. Gebäude sollen wieder 100 Jahre Bestand haben, ohne die Umwelt zu ruinieren. „Mit weniger mehr erreichen“ ist dabei mehr als ein Gestaltungsprinzip, es ist eine Haltung.
Regeln brechen, Verantwortung teilen
In der abschließenden Diskussion wird deutlich: Wenn Architektur wirklich punkig sein soll, müssen auch ihre Rahmenbedingungen rebellieren. Statt „Regeln der Baukunst“ brauche es „Regeln der Physik“, fordern die Teilnehmenden – mehr Experimente, andere Bürokratie. Auftraggeber müssten stärker eingebunden werden, etwa über Virtual-Reality-Erlebnisse, die Entwürfe erlebbar machen. Nicht zuletzt, um Verständnis für das Experiment zu fördern.
Am Ende bleibt der Eindruck: Frei Ottos Geist lebt, wo Mut den Pragmatismus herausfordert. Mehr Punk bedeutet hier nicht Chaos, sondern Neugier, Offenheit und den Willen, Architektur als lebendigen Prozess zu begreifen. Oder um es mit Frei Otto selbst zu sagen: „Architektur ist kein Endprodukt, sondern ein Experiment im Werden.“